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VII. Die neuere Dichtung bis zur Jetztzeit.
O
Jemand kommt in höchster Schnelligkeit die Treppe herunter.
Hete (hält ein Reibeisen in die Höhe). Nu seht bloß: a so was krigt Hanke ge¬
schenkt.
Hanke ist hinter ihr drein gejagt, erreicht sie, will ihr das Reibeisen entwinden,
sie aber wirft es mit einer schnellen Bewegung von sich mitten ins Zimmer hinein.
Hannele (schreckhaft auffahrend). Er kommt! Er kommt! (Halb aufgerichtet,
starrt sie, den Kopf vorgestreckt, mit dem Ausdruck höchster Angst in dem blassen, kranken,
gramverzehrten Gesichtchen in der Richtung der Geräusche. Hete hat sich dem Hanke
entwunden und ist fort in das Hinterzimmer. Hanke tritt ein, um das Reibeisen auf¬
zuheben.)
Hanke. Ich wer dirsch anstreichen. Dare du!
Gottwald (zu Hannele). Du kannst ruhig sein, Hannele. — (Zu Hanke.) Was
wollen Sie denn?
Hanke (erstaunt). Ich? Was ich will?
Hete (steckt den Kopf herein, ruft). Langfinger! Langfinger!
Hanke (drohend). Sei du ganz gemhig, dir zahl ich's heem.
Gottwald. Ich bitte um Ruhe, hier liegt'n Krankes.
(Hannele liegt in Fieberphantasien; Schwester Maria sucht sie vergebens in Schlaf
zu bringen. „Eine blasse, geisterhafte Frauengestalt" erscheint ihr, „abgehärmt, aus¬
gemergelt, vor der Zeit gealtert und aufs dürftigste gekleidet". Sie spricht mit mono¬
toner Stimme. „Mit einiger Anstrengung scheint sie die Laute aus der Tiefe ihrer
Brust hervorzuholen.")
Frauengestalt. Hannele!
Hannele (ebenfalls mit geschlossenen Augen) Mütterchen, liebes Mütterchen,
bist bu'3?
Frauengestalt. Ja, ich habe die Füße unseres lieben Heilands mit
meinen Tränen gewaschen und mit meinem Haupthaar getrocknet.
Hannele. Bringst du mir gute Botschaft?
Frauengestalt. Ja.
Hannele. Kommst du von weither?
Frauengestalt. Hunderttausend Meilen weit durch die Nacht.
Hannele. Mutter, wie siehst du aus?
Frauengestalt. Wie die Kinder der Welt.
Hannele. In deinem Gaumen wachsen Maiglöckchen. Deine Stimme tönt.
Fr au enge st alt. Es ist kein reiner Klang.
Hannele. Mutter, liebe Mutter, wie glänzest du doch in deiner Schöne.
Frauengestalt. Die Engel im Himmel sind viel hundertmal schöner.
Hannele. Warum bist du nicht auch so schön?
Frauengestalt. Ich litt Pein um dich.
Hannele. Mütterchen, bleibe bei mir!
Frauengestalt (erhebt sich.) Ich muß fort.
Hannele. Ist es schön, wo du bist?
Frauengestalt. Weite, weite Auen, bewahrt vor dem Winde, geborgen
vor Sturm und Hagelwettern in Gottes Hut.