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jenem Felsen wohnt ein Drache; er hat die schönste Jung¬
frau von der Welt in seine Höhle entführt. Wenn Gott
sich ihrer nicht erbarmt, so wird sie nimmer erlöst. Sie
ist eine reiche Königstochter; Oiebich ist ihr Vater, der
herrscht zu Worms am Rhein; sie selbst aber heisst Kriem-
hilde.“ „Das ist mir wohlbekannt,“ versetzte Siegfried.
„Ich war selbst an Oiebichs Hofe, und die Jungfrau und
ich — wir waren einander gar hold.“ Dann stiefs er sein
Schwert in die Erde und schwur drei feierliche Eide, dass
er nicht von dannen gehen wollte, bis er die Jungfrau er¬
löst habe. Da sagte ihm Eugel, in dem Walde wohne ein
Riese, Namens Kuper an, dem sei die ganze Gegend Unter¬
than, und der verwahre auch die Schlüssel zu dem Felsen,
auf welchem die gefangene Jungfrau schmachte.
Diesen Riesen nun bekämpfte Siegfried und warf seinen
Leichnam von dem Felsen, dass er zerschmettert in der
Tiefe ankam. Dann begab sich Siegfried zu der Jungfrau.
Als diese den Helden sah, weinte sie vor Freuden und
sprach: „Willkommen, Siegfried, du edler Held, den ich
schon in meines Vaters Hause gesehen habe. Sage mir,
wie geht es meinen Eltern, und was machen meine lieben
Brüder?“ Siegfried aber sprach: „Lass dein Weinen sein,
edle Jungfrau! Ich will dich mit Gottes Hülfe von diesem
Felsen befreien!“
Kaum hatte Siegfried das gesagt, so erhob sich ein
grosser Schall, als ob das Gebirge zusammenbrechen sollte.
Der Drache kam heran, Feuer schnaubte er vor sich her,
und der Felsen erzitterte bei seinem Anprall. Da trat
Siegfried heraus aus der Höhle mit dem grossen Schwert,
das er dem Riesen Kuperan abgenommen hatte. Grimmige
Schläge führte er gegen den Drachen, aber sie drangen
nicht durch die Hornhaut des Tieres, und der Drache spie
soviel Feuer aus, dass Siegfried sich in die Höhle zurück¬
ziehen musste. Aber kaum hatte er sich erholt, so ging er
wieder hinaus und hieb auf den Drachen los. Von den
Schlägen nun und von dem Feuer wurde endlich die Haut
des Drachen erweicht, und so konnte dieser dem Schwerte
nicht länger widerstehen. Mit einem wohlgezielten Schlage
hieb ihn der Held mitten entzwei, so dass die eine Hälfte
unter fürchterlichen Zuckungen vom Felsen hinabstürzte.
Noch heutigen Tages heisst davon der Felsen der Drachen¬
fels.