Full text: Fünfzehn Bilder aus der deutschen Geschichte

28 
jenem Felsen wohnt ein Drache; er hat die schönste Jung¬ 
frau von der Welt in seine Höhle entführt. Wenn Gott 
sich ihrer nicht erbarmt, so wird sie nimmer erlöst. Sie 
ist eine reiche Königstochter; Oiebich ist ihr Vater, der 
herrscht zu Worms am Rhein; sie selbst aber heisst Kriem- 
hilde.“ „Das ist mir wohlbekannt,“ versetzte Siegfried. 
„Ich war selbst an Oiebichs Hofe, und die Jungfrau und 
ich — wir waren einander gar hold.“ Dann stiefs er sein 
Schwert in die Erde und schwur drei feierliche Eide, dass 
er nicht von dannen gehen wollte, bis er die Jungfrau er¬ 
löst habe. Da sagte ihm Eugel, in dem Walde wohne ein 
Riese, Namens Kuper an, dem sei die ganze Gegend Unter¬ 
than, und der verwahre auch die Schlüssel zu dem Felsen, 
auf welchem die gefangene Jungfrau schmachte. 
Diesen Riesen nun bekämpfte Siegfried und warf seinen 
Leichnam von dem Felsen, dass er zerschmettert in der 
Tiefe ankam. Dann begab sich Siegfried zu der Jungfrau. 
Als diese den Helden sah, weinte sie vor Freuden und 
sprach: „Willkommen, Siegfried, du edler Held, den ich 
schon in meines Vaters Hause gesehen habe. Sage mir, 
wie geht es meinen Eltern, und was machen meine lieben 
Brüder?“ Siegfried aber sprach: „Lass dein Weinen sein, 
edle Jungfrau! Ich will dich mit Gottes Hülfe von diesem 
Felsen befreien!“ 
Kaum hatte Siegfried das gesagt, so erhob sich ein 
grosser Schall, als ob das Gebirge zusammenbrechen sollte. 
Der Drache kam heran, Feuer schnaubte er vor sich her, 
und der Felsen erzitterte bei seinem Anprall. Da trat 
Siegfried heraus aus der Höhle mit dem grossen Schwert, 
das er dem Riesen Kuperan abgenommen hatte. Grimmige 
Schläge führte er gegen den Drachen, aber sie drangen 
nicht durch die Hornhaut des Tieres, und der Drache spie 
soviel Feuer aus, dass Siegfried sich in die Höhle zurück¬ 
ziehen musste. Aber kaum hatte er sich erholt, so ging er 
wieder hinaus und hieb auf den Drachen los. Von den 
Schlägen nun und von dem Feuer wurde endlich die Haut 
des Drachen erweicht, und so konnte dieser dem Schwerte 
nicht länger widerstehen. Mit einem wohlgezielten Schlage 
hieb ihn der Held mitten entzwei, so dass die eine Hälfte 
unter fürchterlichen Zuckungen vom Felsen hinabstürzte. 
Noch heutigen Tages heisst davon der Felsen der Drachen¬ 
fels.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.