Full text: Charakterbilder für den biblischen Geschichtsunterricht

Daß Judas Jschariot vor seiner Erwählung zum Apostel ein 
schlechter Mensch gewesen sei, läßt sich nicht wohl annehmen, indem 
sonst Jesu Wissen und Urteil, sein Scharfblick und der Glaube an 
die Macht seiner Persönlichkeit selbst zu bezweifeln wäre. Er mag 
im Anfange nicht schlechter und nicht besser gewesen sei als die andern 
Jünger. Sein Verrat dagegen stellt ihn dar als einen heuchlerischen, 
von den Banden der Pietät, der Achtung und Liebe losgelösten Cha¬ 
rakter, als eine von der kältesten Verachtung oder vom glühendsten 
Hasse erfüllte Persönlichkeit. Es mag sein, daß Geldgier oder Ehr¬ 
geiz seinem Charakter nicht ganz fremd gewesen sind, seine That konnte 
aber nur auf dem tiefsten Bruche des innersten Selbstbewußtseins des 
Schülers gegenüber dem Meister beruhen. 
»Dieser tief gehende Riß«, sagt Keim, »aber konnte nach den That¬ 
sachen und Wahrscheinlichkeiten der Lage nur auf Gründe zurückgehen, 
von denen der eine oder der andere oder auch beide vereint den radi¬ 
kalen Umschwung dieses Geistesleben zustande brachten. Das eine 
war die Enttäuschung durch den Messias, welcher die herrlichsten Aus¬ 
sichten geweckt und doch keine erfüllt hatte, welcher keine Wunder mehr 
that, so daß selbst die Furcht vor seinen Wundern zerging, welcher 
das Volk nicht zog, die Gegner nicht schlug, welcher sich zurückzog, 
hier von seinem Tode redete, hier von den Leiden seiner Apostel, hier 
freilich von Aussichten der Zukunft, die wie ein Geklingel von Worten 
und wie ein Schaum der Träume zergingen am Ernst der Thatsachen. 
Das andere war der erwachsende Respekt vor den immer wieder Ehr¬ 
furcht gebietenden Männern des Stuhles Mosis, denen der Tempel 
gehörte mit seiner Marmorpracht, mit seinen Schätzen und Weihge¬ 
schenken, mit den Opfern, mit den Priestern und Leviten ohne Zahl, 
benen endlich die Nation gehorchte und huldigte in den Tausenden, 
in den Millionen, welche sich zur heiligen Stadt drängten und zu 
den Vorhöfen, während Jesus mit den Zwölfen klein und machtlos 
darin verschwand.« 
»Dabei mag es wohl sein,« fährt Keim nach einigen weiteren 
Reflexionen fort, «daß ein Abkömmling der südlichen Landesgegend, 
wie es Judas war,*) in die stärkste Brandung inneren Kampfes hinein¬ 
geworfen wurde, wenn etwa Verwandte und Freunde unmittelbar seine 
Gesinnung beeinflußten oder die alten Erinnerungen an die Heiligtümer 
*) Judas soll aus ber Stadt Kairot im Stamme Juda stammen.
	        
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