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treuen Pylades, auch fliehen mochte, überall hefteten sie sich an feine
Sohlen; selbst Apollo konnte ihm in feinem Tempel zu Delphi nur
eine kurze Rast gewähren. Derselbe riet dem Unglücklichen, sich nach
Athen zu begeben und dort im Tempel der Pallas Athene Schutz
zu suchen. Geleitet von Hermes, dem Götterboten, gelangte Orestes
dorthin; aber selbst in den Tempel der Göttin folgten die Rache-
göttinnen ihm nach. Schon umringten sie ihn; da aber erschien
Athene selbst und that ihnen kund, daß sie in Athen auf dem Hügel
des Ares ihn richten lassen werde. Sie berief nun die weisesten
Männer der Stadt zum Gericht, sie selbst aber führte den Vorsitz.
Hier traten die Rachegöttinnen als Ankläger auf, während Apollo
den Orestes verteidigte. Jeder der Richter aber erhielt zwei Steine,
einen Weißen unb einen schwarzen; der erstere, in eine Urne geworfen,
bedeutete die Freisprechung, der andere die Verurteilung. Als man
die Steine zählte, fand es sich, daß ebensoviel schwarze, wie Weiße
in der Urne lagen. Da warf Athene aus Erbarmen für den An¬
geklagten selbst eine Weiße Kugel hinein und sprach ihn so frei. Die
Erinnyen mußten ihn nun freilich verlassen; aber eine Schuld wie der
Muttermord läßt sich aus der Seele des Menschen nicht durch einen
Richterspruch verwischen. Den unglücklichen Jüngling befiel von
Zeit zu Zeit eine tiefe Schwemmt, welche oft in Raserei ausartete.
Da fragte er das Orakel des Apollo zu Delphi, wie er von diesem
Leiden befreit werden könnte, und erhielt die Antwort, im schwarzen
Meere liege eine Halbinsel, Tauris genannt; dort stehe ein Tempel
ber Artemis, der Schwester des Apollo, und in diesem Tempel be¬
finde sich ein uraltes Bild der Göttin, das solle er holen und nach
Griechenland bringen. Sofort machte sich Orestes, von dem treuen
Freunde begleitet, auf den Weg, und nach mühsamer Fahrt gelang¬
ten beide endlich glücklich an die Küste von Tauris. Hier aber
lebte unter bem König Thoas ein rauhes Volk, welches die grausame
‘Sitte hatte, jeden Fremden, der fein Land betrat, der Göttin Arte-
*uis zu opfern. Eine fremde Priesterin waltete feit Jahren in
Lesern Tempel. Wie sehr es ihr auch widerstrebte, sie mußte
die Fremden durch Besprengung zum Opfer weihen. Auch Orestes
uttd Pylades wurden ergriffen und in den Tempel vor die Priesterin
geführt. Wunderbar aber wurde diese in ihrem Herzen bewegt, als
Re aus dem Munde der Fremden griechische Laute vernahm und