Full text: Proben der Poesie und Prosa des 16., 17., 18. und 19. Jahrhunderts, eingerahmt in einen kurzen Abriß der neueren Literaturgeschichte (Abschn. 2)

390 
Das 19. Jahrhundert. Groth: Biographisches. 
40. Ihr mit Kranz und Binsen- 
körben, 
Tretet in den Ring ihr Kleinen; 
Singt den Reim, wiewohl ihr heute 
Klüger tätet, still zu weinen. 
41. Dennoch singt; den jungen Nacken 
Schmerzt noch nicht das Joch der 
Franken; 
Singt, und mag es traurig lauten 
Wie das Singen eines Kranken." 
42. Und die Knaben und die Mädchen 
Huben an mit leiser Stimme: 
„Schirm' uns, Balder, weißer Balder, 
Vor des Christengottes Grimme! 
43. Komm zurück, du säumst so 
lange! 
Sieh, wie Erd' und Himmel klagen; 
Komm zurück mit deinem Frieden 
Aus dem goldnen Sonnenwagen. 
44. Weißer Balder, weiße Blumen, 
Wie an Bach und Rain sie sprießen, 
Weiß wie deine lichten Brauen, 
Legen wir dir gern zu Füßen. 
45. Sieh, wir geben, was wir 
haben: 
Arm sind unsre Fruchtgefilde; 
Laß Geringes dir genügen, 
Weißer Balder, Gott der Milde. 
46. Gott der Liebe, weißer Balder, 
Neige hold dich unsren Grüßen: 
Blumen, rein wie unsre Herzen, 
Legen wir dir gern zu Füßen." — 
47. Und den Opferstein umwandelnd, 
Warfen sie die heil'gen Kräuter, 
Lichte Glocken, lichte Flocken, 
Lichte Sterne auf die Scheiter. 
48. Dann mit leisen Wispelworten 
Nahm die Priesterin die Schale: 
„Trinkt des weißen Gottes Minne, 
Eh' ihr hebt die Hand zum Mahle!" 
49. Durch die Runde ging ein 
Raunen 
Und gedämpftes Becherklirren, 
Wie in herbstlich dürrem Rohre 
Abendlüfte heimlich schwirren. 
50. Und der krause Opferdiener, 
Ans des Kessels weitem Bauche 
Gab er jedem von dem Fleische, 
Von der Mistel, von dem Lauche. — 
51. O, es war kein Mahl der 
Freude! 
Stets des Überfalls gewärtig, 
Saß die Schar der Ungetauften, 
Stets zum Fliehn, zum Trotzen fertig: 
52. Wölfen gleich, die tief im Walde 
Hastig einen Raub verzehren 
Und in jedem Blätterrauschen 
Hund und Jäger kommen hören. — 
52. Sprach die Drude: „Dankt den 
Göttern, 
Löscht die Glut und nehmt die Brände: 
Dunkles brütet zwischen heute 
Und der nächsten Sonnenwende; 
54. Denn nicht alle kommen wieder, 
Und nicht jedem ist zu trauen. 
Fort! die Sterne schimmern blasser, 
Und der Tag beginnt zu grauen." — 
55. In die Gründe glitt die Menge, 
Wie verstoben, wie versunken; 
Frische Morgenwinde spielten 
Mit der Asche, mit den Funken. 
56. Von der Sonne ersten Strahlen 
Glühten rot die fernen Gipfel, 
Und der Schrei der wilden Katze 
Klang im höchsten Eichenwipsel. 
Ulaur Groth. 1819—1899. 
Werke in 4 Bänden, Kiel und Leipzig 1693. 
Geb. den 24. April 1819 zu Heide in Holstein, auf dem Lehrerseminar .zu 
Tondern gebildet, war anfangs Lehrer in Heide, zuletzt Professor an der Universität 
in Kiel. f am 1. Juni 1899. Er wurde berühmt durch seine niederdeutschen Ge¬ 
dichte, die er unter dem Titel Quickborn 1852 herausgab.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.