Full text: Bilder und Lebensbeschreibungen aus der Weltgeschichte

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138. Joseph II. von Österreich. 
2. Josephs Menschenfreundlichkeit. Von seiner Menschen¬ 
freundlichkeit lieferte Joseph zahllose Beweise. Der Geringste im 
Volk durfte frei vor seines Kaisers Angesicht kommen und zu ihm reden; 
deshalb war auch den ganzen Vormittag der Gang vor seinem Kabinett 
gedrängt voll von Leuten, die irgend ein Anliegen hatten und nun der 
Reihe nach vorgelassen wurden. Jede Bittschrift wurde rasch beantwortet. 
Da ihm auch das Geringste am Herzen lag, mußte er, gleich Friedrich dem 
Großen, fleißiger sein als irgend einer seiner Untergebenen. Früh um 
fünf Uhr stand er auf, und oft arbeitete er bis tief in die Nacht. So oft 
er ausgehen wollte, steckte er eine Summe Geldes zu sich, um Armen und 
Bedrängten sogleich helfen zu können. Bekannt ist die Geschichte, wie er 
eine kranke Frau als Arzt besuchte und ihr 50 Dukaten verordnete. Den 
Wiener Augarten, der bis dahin nur deu Adeligen zugänglich gewesen 
war, öffnete er allem Volke zur Belustigung und fetzte über deu Eingang 
die Worte: „Allen Menschen gewidmet von ihrem Schätzer." Als die 
adeligen Herren klagten, daß sie mm kein Plätzchen mehr hätten, wo sie 
ungestört unter sich vergnügt sein könnten, erwiderte Joseph: „Wenn ich 
nur unter meinesgleichen sein wollte, so müßte ich in die Kaisergruft der 
Kapuzinerkirche hinabsteigen und unter meinen toten Ahnen leben." Mit 
besonderer Liebe nahm er sich des Bauernstandes an. Er hob die Leib¬ 
eigenschaft auf, uud als er einst in Mähren reiste, ergriff er selbst den 
Pflug eines Bauern und pflügte eine Strecke, um zu zeigen, wie hoch er 
den Ackerbau ehre. ’ ’ 
8. Josephs Gerechtigkeitsliebe. Wie sehr Joseph die Gerechtigkeit 
liebte und alle Bedrückung haßte, davon giebt folgende Geschichte eine schöne Probe. 
Einst herrschte in Böhmen Teurung und Hungersnot. Joseph ließ Getreide dort¬ 
hinschaffen und machte sich dann selbst auf, um zu sehen, ob es auch ordentlich 
verteilt werde. Unerkannt kam er in eine kleine Stadt. Vor dem Amthause standen 
mit Korn beladene Wagen, neben denselben aber Bauern, welche sehr ungeduldig 
und niedergeschlagen schienen. Auf Befragen erzählten sie: „Seit acht Stunden 
warten wir vergeblich, daß man das Korn von unsern Wagen lade, damit wir 
unsern weiten Heimweg antreten können." „So ist es!" bestätigte der anwesende 
Amtsschreiber, „und ebenso sehnsüchtig harren die hiesigen Einwohner der Aus¬ 
teilung des Getreides." „Aber was ist denn der Grund dieser Zögerung?" fragte 
der Kaiser. — „Der Herr Amtmann hat große Gesellschaft und will nicht gestört 
sein." Da ging der Kaiser, welcher einen einfachen Oberrock trug, mit dem Amts¬ 
schreiber in die Wohnung des Amtmanns und ließ sich bei diesem anmelden. Als 
der Amtmann erschien, sagte er: „Ich bin kaiserlicher Offizier und möchte Sie er¬ 
suchen, die armen Leute da unten, die schon so lange gewartet haben, abzufertigen." 
„Die Bauern können noch warten", erwiderte der Amtmann, „ich werde mich durch 
sie in meinem Vergnügen nicht stören lassen." — „Aber man muß doch menschlich 
sein und die Leute nicht ohne Not plagen!" — „Sie haben mir keine Lehren zu 
geben, mein Herr!" — „Nun denn", rief der Kaiser, „so muß ich Ihnen sagen, Herr 
Amtmann, daß Sie mit der Austeilung des Kornes überhaupt nichts mehr zu schaffen 
haben. Sie sind vom Kaiser, der hier vor Ihnen steht, Ihres Amtes entsetzt. Die 
Verteilung aber besorgen Sie, Herr Amtsschreiber; Sie sind von jetzt ab Amt¬ 
mann!"
	        
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