141. Fortgang d. Revol.; Zug n. Versailles; Fluchtversuch d. Königs. 311
on die Gutsherrschaft, Frondienste, einen Zehnten und anderes sollte es
nicht mehr geben. „Freiheit und Gleichheit!" war jetzt das Geschrei
des Tages. Als der Freiheitsrausch noch höher stieg, hob man den Adel
gänzlich auf und verbot alle Wappen und Titel. Selbst die Anrede
„Herr" wurde verpönt; „Bürger" nannte man hinfort jeden vom Minister
bis zum Hausknecht. Der König, welcher jeden Widerstand für unnütz
hielt, genehmigte alles.
2. Zug nach Versailles (Oktober 1789). Um den König ganz in
ihre Gewalt zu bekommen, beschlossen die Freiheitsmänner, ihn von Ver¬
sailles nach Paris zu holen. Unter ihrer Führung rotteten sich Taufende
von Weibern, namentlich Fischweibern, und viele als Weiber verkleidete
Männer zusammen; mit diesen marschierten sie nach dem zwei Meilen ent¬
fernten Versailles ab. Mit Gesang und Trommelschlag rückt der wüste
Haufe nachmittags dort ein. Nun treibt man allerlei Unfug und schickt
auch eine Deputation von Weibern an den König, der sich so freundlich
wie nur möglich bezeigt. Abends lagert sich die Menge auf dem
weiten Paradeplatze vor dem Schlosse, wo sie Feuer anzündet, trinkt und
singt. Bis tief in die Nacht hört man im Schlosse das Geheul und Ge¬
kreisch der entmenschten Weiber. Gegen Mitternacht trifft von Paris auch
der General Lafayette (Lafajett) mit der Nationalgarde (Bürgerwehr)
ein; er versichert den König seines Schutzes und stellt für einige Stunden
Ruhe her.
Der grauende Morgen bringt jedoch desto schrecklichere Scenen.
Männer und Weiber dringen durch eine unbewachte Thür ins Schloß,
töten mehrere der treuen Leibwächter und stürmen nach dem Schlafgemach
der Königin. Diese, durch den Tumult ausgeschreckt, flüchtet halb an¬
gekleidet zum Könige. Auch hierher suchen die Mörder zu dringen; die
Gänge des Schlosses hallen wieder von wildem Rufen und Flintenschüssen.
Da — es war die höchste Zeit — erscheint Lafayette mit Nationalgarden;
er säubert rasch das Schloß von dem Mordgesindel und rettet das ge-
ängstigte Königspaar. Aber draußen vor dem Palast steht nun Kopf an
Kopf die wilderregte Menge; aus ihrer Mitte ragen Piken, auf denen die
Köpfe der gemordeten Leibwächter stecken. Auf Lafayettes Rat zeigt sich
der König auf dem Balkon. Das gefüllt dem Volke; es ruft: „Es lebe der
König!" Nun führt Lafayette auch die Königin auf den Balkon. Die Menge
tobt und brüllt; ein Kerl legt das Gewehr auf sie an; ein anderer schlägt
es nieder. Angstvoll steht die hohe Frau da mit gefalteten- Händen und
Thränen im Auge. Da läßt Lafayette sich vor ihr auf ein Knie nieder
und küßt ihr ehrfurchtsvoll die Hand. Man staunt, es wird stille, und
auf einmal ruft das wankelmütige Volk: „Es lebe die Königin!" Da¬
neben erhebt sich immer lauter der Ruf: „Nach Paris! nach Paris!"
Der König verspricht, noch denselben Tag nach der Hauptstadt über¬
zusiedeln. '
Nachmittags ein Uhr setzt der Zug sich in Bewegung; welch ein
Zug! Voran werden auf Piken die Köpfe der ermordeten Leibwächter
getragen; dann folgt der Wagen mit ber königlichen Familie. Neben und
hinter demselben trunkene Männer und Weiber. Freches Gesindel um-