Kap. 36. § 222. Abdankung Kaiser Karls V.
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Augsburgischer Konfession außer vollkommener religiöser Ge-
Wissensfreiheit auch völlige bürgerliche Rechtsgleichheit mit den Katho¬
liken einräumte und sie in dem Besitze der eingezogenen geistlichen Güter
beließ, jedoch mit dem „geistlichen Vorbehalte", daß, wenn ein
katholischer Geistlicher künftig zum Protestantismus übertreten wolle, er zwar
deshalb nicht angegriffen werden, aber durch seinen Übertritt unmittelbar
sein Amt und seinen Stand verlieren sollte. Ohne diesen Vorbehalt wäre
eine Menge hoher und niederer Geistlichen zur lutherischen Confession über¬
gegangen.
Übrigens war dem „geistlichen Vorbehalt", der in der Urkunde als Reichsgesetz aus¬
gesprochen war, in derselben Urkunde die ausdrückliche Erklärung hinzugefügt, daß die
evangelischen Stände demselben nicht zugestimmt hätten.
Außer dem geistlichen Vorbehalt (reservatum ecclesiasticum) lag noch eine weitere
Beschränkung der vollen Religionsfreiheit in der Bestimmung, daß jene Freiheit nur
für die eigentlichen Reichsstände gelten solle, so daß also alle mittelbaren
Stände, sowie alle Untertanen in Bezug auf die Religion von ihren Landesherren
abhängig blieben, die Reichsunmittelbaren demnach das Vorrecht hatten, als Herren
der Religion ihres Gebiets die Untertanen zum Religionswechsel zu zwingen
(cuius regio illius religio), wenn anders diese nicht, was ihnen bewilligt war, das Recht
des freien Abzugs vorzogen.
Ungern fügten sich die Protestanten in diese Beschränkung, welche einen
Teil des Gewonnenen wieder aufs Unsichere stellte. Dennoch war dieser
friedliche Austrag von unschätzbarem Wert, weil ihnen ein unbedingter ewiger
Friede zu teil wurde und das Anathema eines Konzils sie nicht mehr
berühren konnte. Noch aber waren die zwinglisch und calvinisch Re-
formirten in diesen Frieden nicht mit einbegriffen. Im übrigen
war durch denselben der Sieg der Reformation vollständig entschieden
und die Macht des Papstes in und über ganz Deutschland für immer
gebrochen. Daß der neugewählte Papst Paul IV den Frieden verwarf,
wurde nicht beachtet.
In politischer Hinsicht begründete dieser Religionsfriede, dem Kaiser gegenüber,
vollends die fürstliche Selbständigkeit der deutschen Landesherren, deren Gewalt
durch die Aufhebung so vieler geistlicher Herrschaften (mit der auch der Adel eine
Hauptstütze verlor) und durch die deshalb gewonnene Möglichkeit, ihre Landesgebiete
mehr abzurunden, einen bedeutenden Zuwachs erhielt.
Noch einmal ging dem Kaiser durch Vermählung feines Sohnes Philipp II mit der
katholischen Königin Maria von England eine Hoffnung auf, von dieser Seite her
seinen Lebensplan noch verwirklicht zu sehen; aber die Aussicht war eine vorübergehende,
zumal Papst Paul IV sich durch Begünstigung Frankreichs als einen Gegner des
Kaisers zeigte.
Da Kaiser Karl V alle hohen Entwürfe seines Lebens — die Demütigung
des anmaßlichen Frankreichs, die Entkräftung der Türkenmacht, die Wieder¬
vereinigung der getrennten Religionsparteien, die Einschränkung der päpstlichen
Gewalt, die Herstellung der alten Kaisermacht, die Befestigung der spanisch -
habsburgischen Dynastie auf deutschem Throne — vereitelt sah, und die
Zunahme seiner Körperschwäche fühlte; so entstand in ihm eine lebhafte Sehn¬
sucht nach stiller Zurückgezogenheit und „klösterlicher Büßung".
Er übergab daher in einer feierlichen Abschiedsrede zu Brüssel am 25.
Oktober 1555 seinem Sohne Philipp zunächst die Regierung der Nieder¬
lande und trat ihm am 15. Januar 1556 auch die Königreiche von Spanien
und Neapel ab.
In dem reichgeschmückten Saale des Palastes erhob sich eine Estrade, zu der sieben