Kap. 39. § 244. Deutsche Dichtkunst im 16. und 17. Jahrhundert. 395
Dagegen trat im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, und zwar gleich¬
falls in Straßburg, in dem feineren und gebildeteren Johann Nschart
das größte satirische Talent auf, das in seiner an Witz und Komik über¬
sprudelnden, die gauze Welt des 16. Jahrhunderts wiederspiegelnden Um¬
arbeitung des französischen Gargantua und Pantagruel alles, was
auf diesem Gebiet geleistet war, hinter sich zurückließ. Zu den komischen
Volksbüchern dieses Zeitraums gehört besonders der E u l e n s p i e g e l,
der eine „stehende Figur" des Volkswitzes wurde und zum Seitenstück das
Laien buch hat.
Aus dem Gebiete des Dramas sind im 16. Jahrhundert nur die Ver¬
suche eines Hans Sachs und Jakob Ayrer erwähnenswert, deren kunst¬
lose Fastnachtsspiele sich durch raschen, lebendigen Dialog auszeichnen.
Gegen das Ende des 16. Jahrhunderts verstummte die deutsche Poesie,
selbst auch in ihren volkstümlichen Lauten. Denn der Pedantismus phi¬
lologischer, theologischer und juristischer Gelehrsamkeit, verbunden minder
lächerlichsten Nachahmung französischer Sitten und Redeweisen,
überwucherte das ganze Feld nationaler Triebkraft und erweiterte die Schei¬
dung zwischen Gelehrtenbildung und Volksbildung zu einer so gro¬
ßen Kluft, daß die Sprache beider Bildungskreise sich gegenseitig gänzlich
unverständlich wurde. Da sich die gelehrte Bildung des 17. Jahrhunderts ,
nicht etwa an die edlern Muster der Griechen- und Römerwelt hielt,
sondern bloß an das Phrasen- und Wortgeklingel der spätern lateini¬
schen Dichter, so entstand eine nur aus schlechten Nachahmungen
geschöpfte noch schlechtere Nachahmung, die den deutschen Geist in
die schimpflichsten Fesseln der Knechtschaft schlug und die Poesie mit ihren
mythologischen und tropischen Figuren zur bloß gelehrten, dabei höchst
geschmacklosen Reimerei ohne Inhalt machte.
Erst als Martin Opih (geb. 1597 zu Bunzlau am Bober) eine geregeltere
Silbenmessung nach der Betonung einführte, begann eine neue
Epoche deutscher Dichtkunst, obwohl er selbst noch ganz in den Fesseln der
gelehrten Poesie lag. Zugleich bildeten sich zum Zweck der Erhaltung und
Ausbildung der deutschen Sprache eine Anzahl Sprachgesellschaften,
die aber gleichfalls nur eine pedantische Nachahmung der in Italien be¬
stehenden geschmacklosen, pomphaft lächerlichen Sprachakademien waren.
Solche Gesellschaften waren der P a l m e n o r d e n oder die fruchtbrin¬
gende Gesellschaft, die aufrichtige Tannengesellschast, die deutsch¬
gesinnte Gesellschaft, der Schwanenorden, der pegnesische Blumen¬
orden. Die spielenden Bestrebungen dieser Gesellschaften förderten nur
eine kümmerliche Frucht.
Was die Dichter dieser Periode betrifft, so gehörten sie verschiedenen
Schulen an, die sich zwischen 1620 und 1660 bildeten; man pflegt sie
nach ihrer Heimat zu benennen. Die größte und anregendste war die
erste schlesische Dichterschule, die von Martin Opih ihre Richtung er¬
hielt und auch den andern Schulen zum Vorbild diente, z. B. der Königs*
berger Schule, in der sich Simon Dach durch lebendige Natürlichkeit
hervortat; der holsteinischen Schule, die durch den gewandten Johann
Rist, der Nürnberger Schule, die durch den mehr künstelnden Hars-
dörfer; der niedersächsischen, die durch den gezierten Philipp von