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Dritte Abteilung Lyrische Poesie.
All ihre regen Kräfte ruhn,
Sie sammelt sich in süße Stille,
In ihre Tiefen schaut fie nun.
4. Die Seele, jüngst so hoch ge—
tragen,
Sie senket ihren stolzen Flug,
Sie lernt ein friedliches Entsagen,
Erinnerung ist ihr genug.
Da ist mir wohl im sanften Schweigen,
Das die Natur der Seele gab;
Es ist mir so, als dürft' ich steigen
Hinunter in mein stilles Grab.
V Sliedexung: 1. Die sanften Frühlingstage: a) Erscheinungen der ersten
Frühlingszeit (Str. I) b) Gefühle und Empfindungen des Dichteèrs (Sir. 2). 2. Die
sanften Herbsttage: a) Schilderung der herbstlichen Natur Str. 8) b) Seelenstimmung
des Dichters (Str. 4. — b) Grundgedanke: Nicht bloß der Frühling, auch der
Herbst hat seine sanften Tage; nicht bloß die aufblühende, auch die scheidende Natur
vbermag das Herz zu füllen; nicht bloß die Jugend, auch das Aller hat seinen Frieden
und seine Freude.
300. Des Knaben Berglied.
Ludwig Uhland.
1. Ich bin vom Berg der Hirten—
knab',
Seh' auf die Schlösser all herab;
Die Sonne strahlt am ersten hier,
Am längsten weilet sie bei mir;
Ich bin der Knab' vom Berge.
So überschallt sie doch mein Lied
Ich bin der Knab' vom Berge.
4. Sind Blitz und Donner unter
mir
So steh' ich hoch im Blauen hier;
Ich kenne sie und rufe zu:
„Laßt meines Vaters Haus in Ruh!“
Ich bin der Knab' vom Berge.
5. Und wann die Sturmglock' einst
erschallt,
Manch Feuer auf den Bergen wallt,
Dann steig' ich nieder, tret' ins Glied
Und schwing' mein Schwert und sing
mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge.
2. Hier ist des Stromes Mutter—
haus,
Ich trink' ihn frisch vom Stein heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Ich fang' ihn mit den Armen auf;
Ich bin der Knab' vom Berge.
3. Der Berg, der ist mein Eigentum,
Da ziehn die Stürme rings herum;
Und heulen sie von Nord und Süd,
a) Gliederung: 1. Der nt — die Sonne. Gedanken und Empfin—
dungen des Hirtenknäben beim Auf- und Untergang der Sonne) 2. ver Hirten⸗
knabe der Strom. 3. Der ntun — die Stürme. 4. Der Hirtenknaͤbe —
das Vaterhaus. 5. Der Hirtenknabe — das Vaterland — b) Gründgedanke—
Das Gedicht stellt dar, was der Hirtenknabe auf seinen Bergen hat und geñießt, was
er fühlt und empfindet.
301. Einkehr.
Lndwig Uhland.
1. Bei einem Wirte wundermild
Da war ich jüngst zu Gaste;
Ein goldner Apfel war sein Schild
An einem langen Aste.
2. Es war der gute Apfelbaum,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohl genähret.
3. Es kamen in sein grünes Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste;
Sie sprangen frei und hielten Schmaus
Und sangen auf das beste.
4. Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
Auf weichen grünen Matten;
Der Wirt er deckte selbst mich zu
Mit seinem kühlen Schatten.
5. Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit,
Da schüttelt' er den Wipfel.
Gesegnet sei er alle Zeit
Von der Wurzel bis zum Gipfel!