Westfranken.
39
unterschieden sie sich an Sprache, Sitten und Verfassung nur wenig; im
Fortgange der Zeit aber sonderten sie sich immer schärfer und eigen¬
tümlicher voneinander ab. Eine einheitliche Weltmacht gab es zunächst
nicht mehr. Der Vertrag von Verdun bezeichnete den Zeit¬
punkt, wo sich die Nationen der Zukunft als selbständige
und unabhängige Teile erheben.
Auf Lothars Regierung ruhte kein Segen. Das schändliche
Verfahren gegen seinen alten Vater lag schwer auf seiner Seele und
quälte ihn mit Gewissensbissen. Er entsagte der Regierung und ging
in ein Kloster. Seine drei ungeratenen Söhne erbten seine Länder.
Auch ihre Regierung währte nicht lange. Lothars Stamm erlosch
bald; und von nun an war Italien der Zankapfel der deutschen und
französischen Könige und der eignen Großen.
Westfranken (Frankreich). Schon nach dem Tode Karls des
Großen veränderte sich der Charakter des westlichen Teils seiner
Monarchie in auffallender Weise, sowohl wirtschaftlich wie politisch.
Die Zahl der Märkte im Loire- und Seinegebiet hatte schon vor dem
Vertrage von Verdun zugenommen. Die Münzregulierungen Karls
des Kahlen, seine Verordnungen gegen die Falschmünzerei, die zu¬
nehmende Ausbreitung der Kaufleute und jüdischen Handelsleute zeigten
die Schnelligkeit, mit welcher die Geldwirtschaft sich an die Stelle
der Naturalwirtschaft gesetzt hatte. Dieser wirtschaftliche Umschwung
kam besonders der Kirche zugute, weil er sich zunächst in den alten
gallischen Provinzialstädten, den Mittelpunkten der bischöflichen Gewalt,
bemerkbar machte. Der westsränkische Klerus entwickelte sich neben
dem Laienadel zu einer Macht, deren Ansprüche und Einflüsse immer
stärker zutage traten. An der Spitze dieses Klerus erschien bald
nach dem Vertrage von Verdun der Erzbischof von Reims, der auch
im Mittelpunkt der großen dogmatischen Streitigkeiten seiner Zeit stand.
Die pseudoisidorischen Dekretalen waren eine literarische Leistung
des westfränkischen Klerus, ein Versuch, den Ansprüchen und der
Stellung des Episkopats eine neue, rein kanonische Grundlage zu geben.
Schon seit längerer Zeit bestand eine nach dem spanischen Bischof
Isidor benannte Sammlung von kirchlichen Gesetzen und Rechts¬
sprüchen. Die fränkischen Bischöfe vermehrten sie um etwa hundert
unechte Zusätze aus späteren Zeiten und verlegten ihren Ursprung in
das erste Jahrhundert der christlichen Kirche. Diese pseudoisidorischen
Dekretalen stellen einen Rechtszustand dar, in welchem die Kirche frei
und unabhängig von aller weltlichen Gewalt ist und der Papst als
der oberste Schiedsrichter der Christenheit erscheint.
In Frankreich herrschten die Karolinger bis zum Jahre 987.