Object: [Teil 6 = (10. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 6 = (10. Schuljahr), [Schülerband])

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das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft 
zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen 
Wege in Griechenland zu gebären. In derjenigen Lebensepoche, wo die 
Seele sich aus der äußeren Welt ihre innere bildet, von mangelhaften 
Gestalten umringt, hatten Sie schon eine wilde und nordische Natur in 
sich aufgenommen, als Ihr siegendes, seinem Material überlegenes Genie 
diesen Mangel von innen entdeckte und von außen her durch die Bekannt¬ 
schaft mit der griechischen Natur davon vergewissert wurde. Jetzt mußten 
Sie die alte, Ihrer Einbildungskraft schon aufgedrungene schlechtere Natur 
nach dem besseren Muster, das Ihr bildender Geist sich erschuf, korrigieren, 
und das kann nun freilich nicht anders als nach leitenden Begriffen von¬ 
statten gehen. Aber diese logische Nichtung, welche der Geist bei der 
Neflexion zu nehmen genötigt ist, verträgt sich nicht wohl mit der ästhe¬ 
tischen, durch welche allein er bildet. Sie hatten also eine Arbeit mehr, 
denn sowie Sie von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so mußten 
Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen und Gedanken 
in Gefühle verwandeln, weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann. 
So ungefähr beurteile ich den Gang Ihres Geistes, und ob ich recht 
habe, werden Sie selbst am besten wissen. Was Sie aber schwerlich 
wissen können (weil das Genie sich immer selbst das größte Geheimnis ist), 
ist die schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit den 
reinsten Nesultaten der spekulierenden Vernunft. Beim ersten Anblicke 
zwar scheint es, als könnte es keine größeren Gpposita geben, als den 
spekulativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der 
Mannigfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem 
Sinn die Erfahrung, und sucht der letzte mit selbsttätiger freier Denkkrast 
das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem 
Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist nur mit Individuen 
und der spekulative nur mit Gattungen zu tun. Ist aber der intuitive 
genialisch und sucht er in dem empirischen den Eharakter der Notwendig¬ 
keit auf, so wird er zwar immer Individuen, aber mit dem Eharakter der 
Gattung erzeugen,' und ist der spekulative Geist genialisch, und verliert 
er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar 
immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit ge¬ 
gründeter Beziehung auf wirkliche Objekte erzeugen. 
Aber ich bemerke, daß ich anstatt eines Briefes eine Abhandlung 
zu schreiben im Begriff bin — verzeihen Sie es dem lebhaften Interesse, 
womit dieser Gegenstand mich erfüllt hat, und — sollten Sie Ihr Bild in 
diesem Spiegel nicht erkennen, so bitte ich sehr, fliehen Sie ihn darum nicht. 
Meine Freunde sowie meine Frau empfehlen sich Ihrem gütigen 
Andenken, und ich verharre hochachtungsvoll 
Ihr gehorsamster Diener 
F. Schiller.
	        
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