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vielgestaltig; denn das Böse hat die Natur des Grenzenlosen, wie schon die
pythagoreer meinten, das Gute dagegen die Natur des Begrenzten. Das
Rechthandeln dagegen ist eingestaltig. Darum ist jenes leicht, dieses aber
schwer, seicht ist es, das Ziel zu verfehlen, schwer, es zu treffen. Darum
ist das Zuviel und das Zuwenig für die unsittliche, die rechte Mitte da¬
gegen für die sittliche Handlung bezeichnend: ,,Redliche sind einfach, Schlechte
von mancherlei Art."
4. Die Freiheit des Willens.
1. Nik. Ethik III, 1: AIs nicht frei gewollt gilt das, wozu jemand
durch Zwang oder Irrtum veranlaßt wird. Durch Zwang bewirkt ist eine
Handlung, deren bewegende Ursache außerhalb des handelnden liegt. (Solche
Handlungen sind entweder nicht frei gewollt oder tragen gemischten Charak¬
ter.) ... Die Handlungen, die aus Irrtum geschehen, sind sämtlich nicht frei
gewollt; aber wirklich unfreiwillig ist nur die Handlung, die Bedauern und
Selbstanklage zur Folge hat. wer irgend etwas auf Grund eines Irrtums
getan hat, aber über feine Handlung kein Bedauern empfindet, der hat
allerdings, was er im Irrtum getan hat, ohne freien Willen, aber doch
auch wieder nicht ohne feinen Willen getan; sonst würde es ihm leid tun.
Also als unfreiwilliger Täter gilt, wer über das im Irrtum Getane Be¬
trübnis empfindet; wer es nicht bedauert, der mag, da fein Verhalten doch
ein anderes ist, statt unfreiwillig nicht-frei-wollend heißen.
2. Nik. Ethik III, 2: Das vorsätzliche ist das eigentümlichste Merkmal
des sittlichen Willens und ein noch bedeutsameres Kennzeichen des Charak¬
ters, als es die Handlungen selber sind. TDas vorsätzlich ist, das ist auch
frei gewollt; aber die beiden Begriffe fallen doch nicht zusammen, sondern
der frei Gewallte ist der umfassendere Begriff. Das frei Gewollte kommt
auch bei den Kindern und Tieren vor, die Vorsätzlichkeit nicht, und die
raschen Handlungen des Augenblicks nennen wir zwar frei gewollt, aber
den Charakter der Vorsätzlichkeit schreiben wir ihnen nicht zu. . . . Unsere
sittliche Beschaffenheit bestimmt sich danach, ob wir uns das
Gute oder das Böse zum Vorsatz machen, nicht danach, was wir für
Ansichten hegen.
3. Nik. Ethik III, 5: Titan sagt ja vielleicht: jemand hat nun einmal
die Natur, keine Sorgfalt auf etwas zu verwenden. Dann aber ist er eben
schuld daran, daß er durch sorgloses In-den-Tag-hinein-Leben diese Natur
angenommen hat. Wenn die Menschen ungerecht oder ausschweifend ge¬
worden sind, so haben sie es selbst verscherzt, die einen dadurch, daß sie
fremdes Hecht verletzten, die andern dadurch, daß sie ihre Tage mit Trink¬
gelagen und ähnlichen Vergnügungen verbrachten. Denn wie der Mensch sich
im einzelnen Falle benimmt, danach gestaltet sich sein Charakter. Dafür
dienen als Zeugnis diejenigen, die sich für einen Wettkampf oder sonst ein
Geschäft einüben; solche Leute bleiben unausgesetzt bei derselben Tätigkeit.