Nationalitätenpolitik: Renner 1916 35
Kriegsriiftungen, und unsere Bourgeoisie bringt Kriegsanleihen auf, daß es
nur so seine Rrt hat. Der Rückschluß auf den allgemeinen verfall ist eben
ganz falsch.
Oder eine andere Tatsache: 3n der politischen Terminologie sind alle
Nationen unterdrückt und entrechtet, natürlich jede in ihrer! was haben
nur die Männer der ungarischen Unabhängigkeitspartei aus den armen
Magyaren für beklagenswerte Lazarusse gemacht! Unterdrückt sind auch die
Deutschen — sie sind nämlich bloßer Kulturöiinger. Unterdrückt sind erst
gar die Tschechen!
Wird nun so ein politischer Forschungsreisender, der sich für unter¬
gehende Völker interessiert ... ins Land verschlagen, so reißt er die Augen
verblüfft auf. (Er sieht die erstaunliche Entwicklung von tDien und Prag
und Pest, sieht Reichtum und Luxus in allen Zonen, Hochschulen in allen
Zungen, besucht Exzellenzen jeder Landsmannschaft. Was besonders die
Tschechen betrifft, so findet der Besucher, daß sie sich in dreiviertel Jahrhun¬
derten aus tiefster geschichtlicher Erniedrigung zur reichsten und unterrichtet-
sten slavischen Nation emporgearbeitet haben. . .. Und der Forschungsrei¬
sende sagt sich: Alles was ich gehört habe, war sehr aufregend, aber —
nicht wahr! . . .
Das große Mißverständnis, das der Nationalismus auf sein Schuld-
konto zu buchen hat, ist die Überhitzung der nationalen Rivalität zur un¬
versöhnlichen Feindschaft, die Übertreibung feines relativen Rechtes zum
Unrecht und die Projektion dieser inneren Rivalität in die auswärtige
Politik. Damit hat er den Schein erweckt, daß die Nationen wider den
Staat kämpfen, wo sie offensichtlich um den Staat, um das Maß ihres
Anteils an der Mitherrschaft ringen!