Full text: Das Mittelalter (Theil 2)

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Siegfried ist tobt. Da heben die Herren den Leichnam des Helden, 
alter Sitte und Ehre gemäß, auf einen goldrothen Schild und tragen ihn 
gen Worms an den Rhein. Manche reden davon, daß man sagen solle, 
Räuber hätten ihn erschlagen, um den Schandfleck des Verwandtenmordes 
zu verhehlen. „Ich will" — ruft Hagen — „ihn selbst nach Worms 
bringen; was kümmert es mich, wenn Kriemhilde erfährt, daß ich ihn 
erschlagen habe. Sie hat Brunhilden so schwer gekränkt, nun mag sie 
weinen, so viel sie will!" 
Und der entsetzliche Hagen läßt noch in der Nacht den Todten vor 
die Thür des Hauses legen, in dem Kriemhilde wohnte. „Wenn sie dann 
morgen früh" — sprach er — „in die Messe gehen will, wird sie den Schatz 
schon finden." Und des andern Morgens bereitet sich Kriemhilde zur 
Kirche zu gehen; ein Kämmerer geht ihr voran und sieht den Leichnam. 
„Frau," sagt er, „da liegt vor der Thür ein erschlagener Ritter!" Ein 
lauter Schrei des Entsetzens ist Kriemhildens Antwort: sie weiß, wer da 
erschlagen liegt, ohne daß man es ihr gesagt hat. Und als sie nun den 
Erschlagenen sieht, vom Blute übergössen und die edlen Züge starr vom 
Todeskampfe, da ruft sie: „Du bist ermordet, dein Schild ist nicht zer¬ 
hauen. Wehe, wehe dem Mörder!" 
Siegfried's Mannen und der greise Vater Siegmund werden geweckt; 
lauter Jammer erfüllt weit und breit die Höfe und Säle und die treuen 
Mannen schaaren sich zur Rache zusammen. Kriemhilde aber wehrt mit 
aller Macht und spricht: „Roch ist es nicht Zeit zur Rache, aber sie wird 
kommen!" Als der Todte auf der Bahre liegt, kommt der König mit 
seinen Leuten; auch Hagen tritt herzu. Kriemhilde aber wartet des Bahr- 
rechts — einer Volkssitte und eines Volksglaubens, der noch heute nicht 
ganz erstorben ist. Wenn der Mörder dem Gemordeten nahe tritt oder 
gar dessen Leichnam berührt, so öffnen sich die Wunden und das Blut 
fließt von Neuem. Und siehe, da König Günther der trauernden Wittwe 
eben einreden will, der Held sei von Raubmördern erschlagen, da tritt 
Hagen heran und die Wunden fließen. „Ich kenne den Mörder schon," 
ruft die arme Kriemhilde, „und Gott wird die Frevelthat rächen!" Der 
Leichnam wird eingesargt und zu Grabe getragen; Kriemhilde folgte mit 
unendlichem Jammer und ringt bis zum Tode. Noch einmal begehrt sie 
das schöne Haupt des Geliebten zu sehen und der köstliche Sarg, aus Gold 
und Silber geschmiedet, wird aufgebrochen. Da führt man sie herbei und 
mit ihrer weißen Hand hebt sie noch ein Mal das Heldenhaupt empor 
und drückt einen Kuß auf die bleichen Lippen. 
Noland's des Kühnen $ob *)♦ 
1. 
Nachdem der herrliche Kaiser Karl sich Spanien unterworfen und zum 
Glauben an Gott und seine heiligen Apostel bekehrt hatte, zog er zurück 
*) Nach O. Klopp.
	        
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