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nigfaltigkeit und Schönheit der natürlichen Produkte stehen Asien
und Afrika über Europa: aber das Edelste und Schönste, was die
Menschheit als ihr Werk auszuweisen hat, das keimte und reifte auf
europäischem Boden. Hier erst wurde dadurch, daß der Mann sich
nur eine Lebensgefährtin und Gattin erwählte, die Familie die
Pflanzstätte der schönsten Tugenden; hier erst entwickelte sich in den
verschiedensten Staatsformen politische Freiheit, während die asiati¬
schen Reiche nur die ewige Wiedergeburt des Despotismus zeigen.
Welch' ein Abstand besteht ferner zwischen Asien und Europa in
Kunst und Wissenschaft.
Ein Hauptgrund dieser Erscheinung liegt gewiß in den eigen¬
thümlichen Vortheilen, welche die natürliche Beschaffenheit unseres
Erdtheils darbietet. Europa gewöhnt weder die Menschen durch üp¬
pige Fruchtbarkeit an Weichlichkeit und Schwelgerei, noch fordert
sein Klima die ganze Kraft des Menschen für die Erhaltung des
Lebens. Der Boden und das Klima Europa's verlangen eine regel¬
mäßige Thätigkeit, und diese ist die Quelle des Wohlstandes. Die
Kunst muß sich überall mit der Natur verbinden, und eben diese
Verbindung ist die Mutter der fortschreitenden Bildung. Ohne
Anstrengung erweitert der Mensch den Kreis seiner Ideen nicht;
aber freilich darf auch feine bloße Erhaltung nicht den Gebrauch
aller seiner Kräfte in Anspruch uehmen. Ein anderer Vortheil Eu¬
ropa's liegt in dem mannigfachen Wechsel seiner Länder. Während
in den warmen und ebenen Strichen wegen der Fruchtbarkeit und
Milde des Klima's die Künste des Friedens gedeihen, erzeugen die
rauhen und gebirgigen Gegenden durch die größere Anstrengung,
welche das Leben erfordert, eine kräftigere und kriegerische Gesin¬
nung. In dem vielgestaltigen Europa berühren und durchkreuzen
sich die mannigfaltigsten Länder so, daß die verschiedenen Eigen¬
schaften der Bewohner sich ausgleichen und ergänzen und keine ein¬
seitige Lebensrichtung zur überwiegenden Herrschaft gelangt. Diese
Vortheile nun bieten in vorzüglichem Grade die drei Halbinseln dar,
in welche, ähnlich wie Asien, Europa nach Süden ausläuft. Wäh¬
rend in dem Innern derselben Bergland und Ebene sich mannig¬
faltig durchkreuzen, regt an den buchtenreichen Küsten das Meer zur
Thätigkeit an.
Die östliche dieser drei Halbinseln oder die griechisch-türkische Gic-hmiands
ist das am meisten gegliederte Land der Erde. Im Norden ist die
Halbinsel breit und zusammenhängend; je weiter nach Süden, desto hnr.
unregelmäßiger wird ihre Figur, je mehr verengt und verästet sie
sich und wird durch viele zusammenhängende Gebirgsarme in eine
Menge größerer und kleinerer Gebiete getheilt. Eine Gebirgskette,
welche sich von den julischen Alpen und dem adriatischen Meere bis
zum schwarzen hinzieht und in ihrem östlichen Verlaufe von den
Alten Hämus, von den Neueren Balkan genannt wird, trennt die
Halbinsel von dem übrigen Europa. Gebirgsarme, welche von der
großen Kette nach Süden gehen, bilden natürliche Scheidewände
der Landschaften Jllyrien, Makedonien und Thracien. Die beiden
letzteren enthalten mitten unter Bergmassen Ebenen und Thäler von
ausgezeichneter Fruchtbarkeit. Südlich von Jllyrien und Macedo-