IV. v. Sybel, Einwirkung der Julirevolution auf Deutschland. 49
die Lage auf. Von politischer Erschütterung war in den weiten
Provinzen der Monarchie wenig zu spüren; selbst in der beweglichsten
derselben, dem Rheinland, hielt das wachsende Gedeihen von Industrie
und Handel den verlockenden Eindrücken der französischen Freiheit
die Wage. In der That, es war begreiflich genug. Seit 1815 hatte
die preußische Verwaltung in den hundert Bruchstücken von Bruch¬
stücken, aus welchen damals der Staat neu zusammengesetzt worden
war, Landschaften, die teils von alters her unter dem Krummstab
verkommen, teils durch die lange Kriegsnot verelendet waren, Be¬
wundernswertes geleistet. Mit Recht hat man dies Jahrzehnt die
klassische Zeit des preußischen Beamtenstandes genannt. Alle Zweige
des öffentlichen Dienstes hatten ihre neue zweckmäßige Organisation
erhalten; fast überall hatte man den rechten Mann für die rechte
Stelle gefunden; überall hatte über den Trümmern der vergangenen
Zeit ein frisch emporblühendes Leben begonnen.
Vor allem fand die Bevölkerung sich einig mit der Regierung
in dem Wunsche auf Erhaltung des Friedens. Der König hatte gleich
nach der Revolution den Entschluß ausgesprochen, in Frankreich keine
Einmischung zu versuchen, in bestimmtem Gegensatz zu Österreich und
Rußland, welche einen solchen Kreuzzug zu Gunsten der Legitimität
sehr gerne gesehen hätten. Als dann die Entwicklung der belgischen
Wirren die Gefahr eines französischen Angriffs hervortreten ließ, er¬
schienen in Berlin dringende Aufforderungen der süddeutschen Höfe,
unter preußischer Leitung feste Maßregeln zu gemeinsamer Abwehr
des drohenden Unheils zu ergreifen. Bayern und Württemberg
rüsteten mit Eifer; die übrigen Staaten des achten Bundescorps ge¬
dachten, dem Köuig von Württemberg den Corpsbefehl zu übertragen:
sie hofften, weit über das Maß des Bundeskontingents hinaus, in
einigen Mouateu 100 000 Mann aufzustellen. Aber von einer An¬
lehnung an den Bundestag oder gar von der Ernennung eines Bundes¬
feldherrn wollten sie nichts wissen. Auch auf Österreich blickten sie
mit vollem Mißtrauen; es sei schlecht gerüstet und wünsche dennoch
Deutschland in einen französischen Krieg zu verwickeln, um dadurch
Frankreich an einem Angriff auf Italien zu hindern. Besonders war
König Ludwig von Bayern gegen Österreich erbittert und drängte in
Berlin auf Abschluß eines Vereins, unabhängig vom Bunde, behufs
eines gemeinsamen Systems für ihre militärischen Vorkehrungen.
Unter diesen Umständen schien sich dem Minister Grafen Bern-
storff eine weite und erfreuliche Aussicht zu eröffnen. Dem genialsten
Müller, Geschichtliches Lesebuch. 4