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58. Löse Träume.
Von Emanuel Geibel.
1. Ich ließ mein Rößlein grasen
Im Wald an Baches Rand
Und lag auf kühlem Rasen
Und dacht' ans Vaterland.
Und bei des Baches Rinnen
Entschlief ich unterm Baum:
Da wob vor meinen Sinnen
Ein dreifach Bild der Traum.
2. Ich sah ein Volk von Immen,
Das ohne Weisel fuhr
Und mit verworrnen Stimmen
Hinschwärmte über die Flur.
Nach allen Winden zogen
Sie ziellos kreuz und quer
Und hatten sich bald verflogen
Und fanden sich nimmermehr.
3. Ich sah ein Bündel Pfeile
Iil blöder Knaben Hand,
Die trieben kurze Weile
Und lösten Ring und Band.
(1850.)
Sie spielten mit ben Rohren
Uneins und ungeschickt:
Die Hälfte ging verloren,
Die Hälfte lvard zerknickt.
4. Ich sah, wie ein Karfunkel
Verschmäht am Kreuzweg lag;
Vom Staube war er dunkel,
Zcrspellt von Stoß und Schlag.
Die Krone der Welt zu schmücken
Geschaffen deucht' er mir;
Nun haschte nach den Stücken
Der fremden Raben Gier.
5. Da wacht' ich auf beklommen
Und stieg zu Roß in Hast;
Die Sonne war verglommen,
Das Spätrot war verblaßt,
Im kühlen Abendschauer
Von dannen ritt ich stumm.
Mein Herz verging in Trauer
Und tvußte wohl, warum.
59. Lismarck in Frankfurt.
Von Heinrich von Sybel.
An die Stelle des nach Petersburg zurückkehrenden Herrn von
Rochow ernannte Friedrich Wilhelm IV. zu seinem Vertreter am Bundestag
den bisherigen Deichhauptmann Herrn Otto von Bismarck-Schönhausen,
der mit der Überreichung seiner Kreditive an den Bundespräsidenten am
29. August 1851 den ersten Schritt auf einer Laufbahn von weltgeschicht¬
licher Bedeutung that.
Bismarck stand damals mit 36 Lebensjahren in der vollen Blüte
des kräftigen Mannesalters. Eine hohe Gestalt, welche die Mehrzahl der
Menschenkinder um eine Kopfeslänge überragte, ein gesundheitstrahlendes
Antlitz, ein von Intelligenz belebter Blick, in Mund und Kinn der Aus¬
druck unbeugsamen Willens: so erschien er damals den Zeitgenossen, in
jedem Gespräche erfüllt von originalen Gedanken, farbigen Bildern, frap¬
panten Wendungen, von gewinnender Liebenswürdigkeit im geselligen,
von schneidender Überlegenheit im geschäftlichen Verkehr. Sein Bildungs¬
gang war großenteils der eines Autodidakten gewesen; die frische
Ursprünglichkeit seiner Natur hatte er weder durch mechanische Schulung,
noch durch äußerlichen Dienstzwang einschnüren oder nmschleifen lassen.
Ans der Universität hatte er bald den Besuch langweiliger Vorlesungen
aufgegeben und als flotter Kvrpsbursche alle Freuden der akademischen
Freiheit gründlich genossen. Aber sein Dasein ging nicht, wie bei so
vielen, im Korpsdienst auf und unter, um dann in geistlosem Philisterinm
trocken hinzuschleichen: sondern kein Tag erschien, an dem er nicht nach