IV
Borwort.
gesehen von unserem großen Krieg, etwa einer Reichs- oder Landtagswahl,
einem Kaiserbesuch, einer in aller Munde lebenden Tat, einer Erfindung
oder Entdeckung) sorgsam und ohne Kleinlichkeit einginge. Die oberen
Klassen einer höheren Lehranstalt könnte man unmittelbar oder doch mittel¬
bar ad fontes leiten: in den Gymnasien zu den lateinischen Und griechischen
Quellen, in den Realschulen zu englischen und französischen Urkunden oder
Bearbeitungen; in allen aber zu dem Strom deutscher Berichte, wie sie
heute in mehreren Sammlungen vorliegen (auch Übersetzungen), zu Kunst¬
werken und zu den großen Fragen und Aufgaben des Augenblicks. Was
kann ein geschickter und kenntnisreicher Lehrer mit einer gut erzogenen Klasse
nicht alles aus dem Nibelungenliede herausholen!
Solange und soweit dies Verfahren noch nicht zulässig ist, müssen wir
Hilfsbücher haben, die nach Inhalt und Form Verstand und Phantasie des
jungen Menschen in dem Grad anregen und befruchten, daß sie ihm zu einem
Freunde werden, mit dem er in Mußestunden, auch außer der Schulzeit,
gern seinen Umgang fortsetzen mag.
Von diesen Erwägungen bin ich schon bei der ersten Bearbeitung des
vorliegenden Buches, die nun schon zwei Jahrzehnte zurückliegt,*) und noch
entschiedener bei der vorliegenden Umgestaltung ausgegangen. Das entseelte
Wort abstrakter Weisheit, das dem Schüler so manches „anerkannte"
Schulbuch zu einem Gegenstand herzlichen Hasses macht, habe ich ängstlich
zu vermeiden und dafür lebensvolle, möglichst den Quellen entnommene Bil¬
der zu bieten gesucht, die Phantasie und Gemüt und durch sie den Willen
ergreifen sollen. Wohlwollende Beurteiler haben mich gewarnt: meine
früheren Darstellungen enthielten zu viele Tatsachen, zu viele Namen. Trotz¬
dem habe ich mich nur mit großer Vorsicht zu einer Anzahl von Streichungen
verstanden. Ich will weder die Namen noch irgend welche Angaben meines
Buches auswendig gelernt haben; und abgesehen von der Erfahrung,
daß junge Gehirne nichts leichter fassen und sicherer behalten als Namen,
zumal wenn sie an Klang und Bedeutung so schön und beziehungsreich sind
wie etwa unsere altdeutschen Personennamen: gewährt nicht eine Erzählung
mit Namen und den damit verbundenen scharfen Umrissen dem jungen Geist
eine ganz andere Vorstellung als ein „man" oder ein Passiv? Mit den
Namen würde auch das durch sie bezeichnete Leben zum guten Teile getilgt!
Gegenwart und Alltagsleben spricht aber nicht nur in Namen, z. V.
Ortsnamen, sondern auch in unseren Lebensformen, in Sitten und Ein¬
richtungen eine Sprache, aus der sich unendlich viele Lebenswerte ablesen
lassen, fesselnder und wertvoller als alles noch so sorgfältig eingeübte
Eedächtniswissen, das sich dem ins Leben der Geschichte eingeweihten
Schüler leicht und gerne von selbst und unverlierbar ergibt: auf diese
Lebenswerte vor allem gilt es die Aufmerksamkeit der Jugend zu lenken.
Denn die Bildung des Menschen bemißt sich nach der Vielseitigkeit und
Tiefe seiner Interessen — und diese aufmerkende, erobernde Teilnahme
*) Fr. Wagners Universitätsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau. 1892.