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tapferen Widerstand, und eine Schlacht stand bevor. Das Orakel hatte aber
demjenigen Volke den Sieg zugesprochen, dessen König fallen würde. Der edle
Kodros beschloß, den Tod fürs Vaterland freiwillig zu übernehmen. Er begab
sich nachts als Bauer verkleidet in das Lager der Feinde, fing Händel an und
wurde erschlagen. Seine Leiche warfen die Krieger vor das Lager. Als die
Dorer am andern Morgen erfuhren, wen sie getötet hatten, zogen sie ab.
Fortan war Athen der Hauptsitz der Jouier und die Hauptstadt des Hellas,
Sparta der Hauptsitz der Dorer und die Hauptstadt des Peloponnes. Es be¬
stand ein großer Unterschied zwischen den griechischen Stämmen. Die Ionier
waren geistig am beweglichsten, sie hatten viel Sinn für Schönheit, feine sprach-
liehe Bildung und ein tieferes philosophisches Denken; Kunst und Wissenschaft
blühten in Athen sowohl als auch in den kleinasiatischen Kolonien. Die Dorer
legten den Hauptwert auf körperliche Tüchtigkeit, kriegerische Tapferkeit und
strenge Charakterbildung im Dienste des Vaterlandes. Diese beiden Stämme
waren die kräftigsten und darum die herrschenden. Den Äolern und Achäern
fehlte die Beweglichkeit des Geistes, sowie die Energie des Charakters, welche
jenen eigen waren. Ja die äolischen Thebaner machten sich in Zeiten der Not
der Feigheit schuldig, und die Achäer, welche während des trojanischen Krieges
der wichtigste unter den hellenischen Stämmen gewesen waren, traten ganz zurück.
Dennoch sahen sich die Hellenen durch vieles zu einem Volke eng verbunden.
Vor allem bildeten die Religion, die Sprache und die Sitte ein festes Band.
Denn wenn auch die einzelnen Stämme ihre besonderen Stammgötter und
Stammessagen, ihre Dialekte und landschaftlichen Gebräuche hatten, so waren
doch die Grundzüge in Religion, Sprache und Sitte dieselben. Dann aber
gab es auch besondere Einrichtungen, durch welche das Bewußtsein der Zu
sammengehörigkeit unter den Volksstämmen aufrecht erhalten wurde. Manche
Heiligtümer waren allen Griechen gemeinsam. So vor allem das Orakel des
Apollo zu Delphi. In einem waldumschlossenen Thalkessel am Abhange des
Parnafsosgebirges, nahe bei der Stadt Delphi, stand der Tempel des weis
sagenden Gottes, und im innersten Heiligtums desselben über einer Erdspalte,
welcher kalte berauschende Dünste entstiegen, ein Dreifuß. Auf diesem nahm
die Priesterin, die Pythia*) Platz, wenn einem Fragenden die Antwort des
Gottes erteilt werden sollte. Von den aufsteigenden Dünsten erregt, stieß sie
bald einzelne Worte aus, welche die umstehenden Priester zu einem Satze in
Versform verbanden. Natürlich lag es ganz in dem Belieben der Priester, wie
die Antwort ausfallen sollte, aber es gehörte viel Scharfsinn und eine genaue
Kenntnis aller Verhältnisse des Fragenden dazu, wenn sie die Glaubwürdigkeit
des Orakels aufrecht erhalten wollten. Erleichtert wurde ihnen ihr mühsames
Amt nur dadurch, daß die Fragenden meist Fürsten oder andere hochgestellte
und darum allgemein bekannte Personen waren. Immerhin aber mußten die
Priester sehr kluge Staatsmänner sein, die mit sicherem Blicke das Richtige
erfaßten. Die Fragenden weihten dem Gotte in der Regel wertvolle Geschenke,
goldene Dreifüße, Becken, Ringe rc., die in Hallen rings um den Tempel auf¬
bewahrt wurden. Zu dem Tempel führte nur ein schmaler Fnßpsad durch den
Wald, letzterer wieder war vou einem weiten, brachliegenden Acker umgeben,
*) Von Pytho abgeleitet, dem alten Namen des Ortes, s. S- 10.