90 Zeugnisse zum deutschen Aufstieg. III/ 1750—1780
4 IKunst.
Johann Wolfgang Goethe [,,5Bon deutscher Bau-
fünft"]. D. M. Ervini a Steinbach x). 1773.
Als ich das erstemal nach dem ^Straßburger] Münster ging,
hatte ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks.
Auf Hörensagen ehrt' ich die Harmonie der Massen, die Reinheit
der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrenen Willkür-
lichkeiten gotischer Verzierungen. Unter der Rubrik gotisch,
gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synony-
mischen *) Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Un-
geordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem,
Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge-
scheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt,
hieß alles gotisch, was nicht in mein System patzte, von dem
gedrechselten bunten Puppen- und Bilderwerk an, womit unsere
bürgerlichen Edelleute ihre Häuser schmücken, bis zu den ersten
Resten der älteren deutschen Baukunst, über die ich, auf Anlag
einiger abenteuerlichen Schnörkel, in den allgemeinen Gesang
stimmte: „Ganz von Zierat erdrückt!" und so graute mir's
im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten, krausborstigen Un-
geheuers.
Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der
Anblick, als ich davor trat! Ein ganzer großer Eindruck füllte
meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten
bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber er-
kennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den
Freuden des Himmels sei. Wie oft bin ich zurückgekehrt, diese
himmlisch-irdische Freude zu genießen, diesen Riesengeist unserer
älteren Brüder in ihren Werken zu umfassen. Wie oft bin ich
zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen, in
1) Lat., abgekürzt für: vis manibus Ervini a Steinbach = der
verklärten Seele Erwins von Steinbach. Erwin von Steinbach baute von
1277 bis zu seinem Tode 1318 am Straßburger Münster (Credner,
Voigtländers Quellenbücher, Bd. 70, S. 79 f.).
2) Griech., = sinnverwandten.