120 Zeugnisse zum deutschen Aufstieg. IV/1780—1815
fehlen am Äquator beinahe gänzlich. Bäume, fast zweimal so
hoch als unsere Eichen, prangen dort mit Blüten, welche groß
und prachtvoll wie unsere Lilien sind. An den schattigen Ufern
des Magdalenenflusses in Südamerika wächst eine rankende
Aristolochia, deren Blume, von vier Fuß Umfang, sich die
indischen Knaben in ihren Spielen über den Scheitel ziehen.
Im südindischen Archipel hat die Blüte der Rafflesia fast drei
Fuß Durchmesser und wiegt über vierzehn Pfund.
Die außerordentliche Höhe, zu welcher sich unter den Wende-
kreisen nicht bloß einzelne Berge, sondern ganze Länder erheben,
und die Kälte, welche Folge dieser Höhe ist, gewähren dem
Tropenbewohner einen seltsamen Anblick. Außer den Palmen
und Pisanggebüschen umgeben ihn auch die Pflanzenformen,
welche nur den nordischen Ländern anzugehören scheinen.
Zypressen, Tannen und Eichen, Berberissträucher und Erlen
(nahe mit den unsrigen verwandt) bedecken die Gebirgsebenen
im südlichen Mexiko wie die Andeskette unter dem Äquator.
So hat die Natur dem Menschen in der heißen Zone ver-
liehen, ohne seine Heimat zu verlassen, alle Pflanzengestalten
der Erde zu sehen, wie das Himmelsgewölbe von Pol zu Pol
ihm keine seiner leuchtenden Welten verbirgt.
Diesen und so manchen anderen Naturgenuß entbehren die
nordischen Völker. Viele Gestirne und viele Pflanzenformen,
von diesen gerade die schönsten (Palmen, hochstämmige Farren
und Pisanggewächse, baumartige Gräser und feingefiederte
Mimosen), bleiben ihnen ewig unbekannt. Die krankenden Ge-
wüchse, welche unsere Treibhäuser einschließen, gewähren nur
ein schwaches Bild von der Majestät der Tropenvegetation.
Aber in der Ausbildung unserer Sprache, in der glühenden
Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst der Maler
ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft
unsere Einbildungskraft die lebendigen Bilder einer erotischen
Natur. Im kalten Norden, in der öden Heide kann der einsame
Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht
wird, und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche
das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser, ist.