Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

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loser Arbeit, die der Jugend ihr erstes, liebstes Recht auf einen 
langen und tiefen Schlaf ohne Gnade vernichtet. Trotzdem ist aber 
der Zudrang zu diesen bevorzugten Stellungen stets ein unverhält¬ 
nismäßig großer, das beste Zeugnis wohl dafür, welch ein vor¬ 
trefflicher Kern noch immer in unserer jungen Vergarbeiterbevölkerung 
steckt. Denn der Weg zum Beamten, zum Steiger, ist für den 
unbemittelten Menschen, wie aus dem Gesagten hervorgeht, ein 
unendlich mühsamer. 
„Bitte hierher," winkt unser Begleiter und führt uns unter 
einem mächtigen Dampfrohre hindurch iu ein hohes, geräumiges 
Gemach, das von einer erstickenden Hitze erfüllt ist. Zuerst bedarf 
es einer kleinen Verwandlung unserer Kleidung. „Ich glaube nicht, 
daß Ihre jetzige Gewandung das Licht des Tages in brauchbarem 
Zustande wieder erblicken würde." 
Wir schauen uns um, an den Wänden des Raumes hängt 
eine Anzahl steifer, englischlederner Grubenanzüge, darunter steht 
eine Menge handfester Stiefel mit langen Kanonenschäften. . . In 
der Nähe auf einer Bank ein wunderliches Sortiment von Hüten 
und Mützen... Es scheint, daß hier ein Trödler sein Magazin 
aufgeschlagen hat. 
Auf der entgegengesetzten Seite des hallenartigen Raumes 
führen einige Stufen zu einem Bassin hinunter, in dem die Be¬ 
amtenschaft nach beendigter Schicht ihre körperliche Reinigung vor¬ 
zunehmen pflegt. Die sogenannte Waschkaue der Arbeiter liegt weiter 
zurück. Die Erwärmung des Vadewassers erfolgt durch Abdämpfe 
aus dem Kesselhause; in dichten Wolken steigt der weiße Schwaden 
aus dem Bassin hervor, verteilt sich in der Luft und schlägt sich 
an Wänden und Fenstern nieder. 
Nichtsdestoweniger sind unsere Anzüge trocken, da der Wärter 
sie in der Nähe der Dampfrohre aufgehängt hatte. Wir wählen 
uns die saubersten aus und beginnen uns umzukleiden — aber 
o weh — diese Hosen und diese Röcke sind für andere Körper¬ 
größen berechnet, als die unsrigen. Es wird versucht und wieder 
versucht, und mit einiger Geduld bringt man es schließlich so weit, 
daß nur noch der Kopf wie verloren aus der weiten Umhüllung 
hervorschaut. Wir stülpen einen breiten, formlosen Filzhut mit rissiger 
Krempe oder eine schirmberaubte Soldatenmütze aufs Haupt und 
suchen dann womöglich noch die Ärmel unseres Rockes zu unseren 
Armen in das richtige Verhältnis zu bringen. Auch dies gelingt, 
und wenn wir nach einer halben Stunde schweißtriefender An¬ 
strengung noch ein Paar der schweren Kanonenstiefel an den Füßen 
haben, atmen wir tief auf. 
Aber noch immer sind wir nicht fertig... Unser Führer reicht uns 
ein grobwolleues Tuch und bedeutet uns, es um den Hals zu legen.
	        
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