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mit Freiheiten aller Art belohnt wurden; die Zeit des Interregnums bietet
Gelegenheit, die fortgesetzten Kämpfe des aufblühenden Bürgertums mit dem
verderbten Adel vorzuführen und zu zeigen, wie nach den Kreuzzügen der
Bürgerstand durch thatkräftiges Streben in Handel und Gewerk sich mächtig
entwickelte, wie der Bürgersinn erstarkte, und wie die Städte in ihrem Schoße
Kunst und Wissenschaften, die aus den Klöstern und Burgen geflohen waren,
zn Pflegen begannen. Durch diese fortwährende Verbindung der kultur¬
geschichtlichen Momente mit der politischen Geschichte gelangen dann die
Schüler nach und nach in den Besitz so zahlreicher Einzelvorstellungen, daß
sie imstande sind, am Schluß eines größeren Abschnitts der Geschichte, etwa
des Mittelalters, von Entstehung, Bauart und Verfassung der Städte, vom
Bürgerleben, von Handwerk und Handel, Kunst und Wissenschaft in der be¬
treffenden Zeit ein Gesamtbild in sich aufzunehmen, das ihnen in lebens¬
voller Ausmalung von dem Lehrer dargeboten wird. — An anderen Stellen
im Geschichtsunterricht ist es nötig, anschauliche Schilderungen von bestimmten
Kulturzuständen zusammenhängend vorzuführen, um hierdurch das Verständ¬
nis der nachfolgenden geschichtlichen Persönlichkeiten oder politischen Er¬
eignisse vorzubereiten. Es genügt beispielsweise nicht, vor der Behandlung
der Reformationsgeschichte sich darauf zu beschränken, daß man, wie es in
manchen Lehrbüchern geschieht, im allgemeinen erwähnt, Zucht und Sitte
seien bei Papst und Geistlichkeit in Verfall geraten, Menschenlehre habe all¬
mählich das Wort der Schrift verdrängt, finsterer Aberglaube sei an die
Stelle des lebendigen Glaubenslebens getreten. Sollen die Kinder die Not¬
wendigkeit der Reformation und die gewaltige Bedeutung Lnthers ganz er¬
sassen, so muß eine lebendig schildernde, bei Einzelheiten verweilende Dar¬
stellung der Zustände aus kirchlichem Gebiete vorangehen. Ebenso darf man,
um die Veranlassung der Bauernkriege nachzuweisen, nicht bei dem Satz
stehen bleiben, daß der vielfach gedrückte und geknechtete Bauernstand, Lnthers
Lehren von der evangelischen Freiheit auch auf die bürgerliche beziehend,
durch die Reformation die Befreiung von dem auf ihm lastenden Druck er¬
hoffte; sondern es ist unerläßlich, die Lage des Bauernstandes im Mittelalter
an Einzelheiten zu veranschaulichen und ein Bild davon zu entwerfen, das
später bei der Behandlung der neueren Geschichte zugleich den Maßstab ab-
giebt für die Beurteilung der Besseruug, welche die Lage des Bauernstandes
der Gegenwart im Vergleich zu deu mittelalterlichen Zuständen erfahren hat.
Der Einwand, daß es für eine derartige ausführliche Behandlung der
Kulturgeschichte in der Volksschule an Zeit fehle, ist unzureichend. Allerdings
muß, um für eine weitere Ausführung der kulturgeschichtlichen Momente im
Unterricht Raum zu gewinnen, vieles, was für die geschichtliche Entwicklung
nicht von nachhaltiger Wirkung und Bedeutung ist, zurücktreten oder ganz
verschwinden; namentlich müssen die Anekdotensammlungen aus dem Leben
einzelner geschichtlicher Persönlichkeiten, die zum Teil historisch unwahr sind,
und die beliebten Detailmalereien iubezug auf Kriege und Schlachten, die
in den meisten Fällen dem Verständnis der Kinder fern liegen, beschränkt
werden. Diese für das Kind meistens durchaus wertlosen Ausschmückungen
der geschichtlichen Darstellung können ohne Schaden entbehrt werden. Der
Gewinn dafür ist ein ungleich größerer, welcher erzielt wird, wenn man,
anstatt den Schüler, um mit Locke zu redeu, zu der Ansicht zu führen, die
Geschichte bestehe nur aus Fechten und Totschlagen und kulminiere in großen
Persönlichkeiten, durch die Vorführung der Lebensäußerungen des Volksgeistes
früherer Jahrhunderte in ihm das lebendige Bewußtsein wachruft, daß durch
den Anteil, den von alters her das Volk in nicht geringem Maße an dem
Ausbau der materiellen und geistigen Kultur gehabt hat, die Gegenwart in
allen ihren Einrichtungen, in Recht, Sitten und Gewohnheiten, in kontinnier-