Full text: Kulturbilder aus Deutschlands Vergangenheit

IV 
mit Freiheiten aller Art belohnt wurden; die Zeit des Interregnums bietet 
Gelegenheit, die fortgesetzten Kämpfe des aufblühenden Bürgertums mit dem 
verderbten Adel vorzuführen und zu zeigen, wie nach den Kreuzzügen der 
Bürgerstand durch thatkräftiges Streben in Handel und Gewerk sich mächtig 
entwickelte, wie der Bürgersinn erstarkte, und wie die Städte in ihrem Schoße 
Kunst und Wissenschaften, die aus den Klöstern und Burgen geflohen waren, 
zn Pflegen begannen. Durch diese fortwährende Verbindung der kultur¬ 
geschichtlichen Momente mit der politischen Geschichte gelangen dann die 
Schüler nach und nach in den Besitz so zahlreicher Einzelvorstellungen, daß 
sie imstande sind, am Schluß eines größeren Abschnitts der Geschichte, etwa 
des Mittelalters, von Entstehung, Bauart und Verfassung der Städte, vom 
Bürgerleben, von Handwerk und Handel, Kunst und Wissenschaft in der be¬ 
treffenden Zeit ein Gesamtbild in sich aufzunehmen, das ihnen in lebens¬ 
voller Ausmalung von dem Lehrer dargeboten wird. — An anderen Stellen 
im Geschichtsunterricht ist es nötig, anschauliche Schilderungen von bestimmten 
Kulturzuständen zusammenhängend vorzuführen, um hierdurch das Verständ¬ 
nis der nachfolgenden geschichtlichen Persönlichkeiten oder politischen Er¬ 
eignisse vorzubereiten. Es genügt beispielsweise nicht, vor der Behandlung 
der Reformationsgeschichte sich darauf zu beschränken, daß man, wie es in 
manchen Lehrbüchern geschieht, im allgemeinen erwähnt, Zucht und Sitte 
seien bei Papst und Geistlichkeit in Verfall geraten, Menschenlehre habe all¬ 
mählich das Wort der Schrift verdrängt, finsterer Aberglaube sei an die 
Stelle des lebendigen Glaubenslebens getreten. Sollen die Kinder die Not¬ 
wendigkeit der Reformation und die gewaltige Bedeutung Lnthers ganz er¬ 
sassen, so muß eine lebendig schildernde, bei Einzelheiten verweilende Dar¬ 
stellung der Zustände aus kirchlichem Gebiete vorangehen. Ebenso darf man, 
um die Veranlassung der Bauernkriege nachzuweisen, nicht bei dem Satz 
stehen bleiben, daß der vielfach gedrückte und geknechtete Bauernstand, Lnthers 
Lehren von der evangelischen Freiheit auch auf die bürgerliche beziehend, 
durch die Reformation die Befreiung von dem auf ihm lastenden Druck er¬ 
hoffte; sondern es ist unerläßlich, die Lage des Bauernstandes im Mittelalter 
an Einzelheiten zu veranschaulichen und ein Bild davon zu entwerfen, das 
später bei der Behandlung der neueren Geschichte zugleich den Maßstab ab- 
giebt für die Beurteilung der Besseruug, welche die Lage des Bauernstandes 
der Gegenwart im Vergleich zu deu mittelalterlichen Zuständen erfahren hat. 
Der Einwand, daß es für eine derartige ausführliche Behandlung der 
Kulturgeschichte in der Volksschule an Zeit fehle, ist unzureichend. Allerdings 
muß, um für eine weitere Ausführung der kulturgeschichtlichen Momente im 
Unterricht Raum zu gewinnen, vieles, was für die geschichtliche Entwicklung 
nicht von nachhaltiger Wirkung und Bedeutung ist, zurücktreten oder ganz 
verschwinden; namentlich müssen die Anekdotensammlungen aus dem Leben 
einzelner geschichtlicher Persönlichkeiten, die zum Teil historisch unwahr sind, 
und die beliebten Detailmalereien iubezug auf Kriege und Schlachten, die 
in den meisten Fällen dem Verständnis der Kinder fern liegen, beschränkt 
werden. Diese für das Kind meistens durchaus wertlosen Ausschmückungen 
der geschichtlichen Darstellung können ohne Schaden entbehrt werden. Der 
Gewinn dafür ist ein ungleich größerer, welcher erzielt wird, wenn man, 
anstatt den Schüler, um mit Locke zu redeu, zu der Ansicht zu führen, die 
Geschichte bestehe nur aus Fechten und Totschlagen und kulminiere in großen 
Persönlichkeiten, durch die Vorführung der Lebensäußerungen des Volksgeistes 
früherer Jahrhunderte in ihm das lebendige Bewußtsein wachruft, daß durch 
den Anteil, den von alters her das Volk in nicht geringem Maße an dem 
Ausbau der materiellen und geistigen Kultur gehabt hat, die Gegenwart in 
allen ihren Einrichtungen, in Recht, Sitten und Gewohnheiten, in kontinnier-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.