Die neue Zeit.
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So gerät das gesamte Privatleben der Deutschen in eine un¬
ruhige Bewegung, überall ringen neue Jdeeen mit alten Vorurteilen,
überall sieht der Bürger um sich und in sich eine Wandlung, der
er nur schwer widerstehen kann. Noch ist die Zeit arm an einzelnen
großen Erscheinungen, aber überall in den kleinen eine treibende
Kraft erkennbar. Nnr wenige Jahrzehnte, und die neue Aufklärung
sollte aller Welt zur Freude ihre Blüten tragen. Immer noch ist
die Weltweisheit und die populäre Bildung des Volkes vorzugs¬
weise abhängig von Mathematik und Naturwissenschaft, aber schon
beginnt seit Johann Matthias Gesner die Altertumskunde, der
zweite Pol aller wissenschaftlichen Bildung, die geschichtliche Ent¬
wickelung der Völkerseelen zu begreifen. Wenige Jahre nach 1750
reist Winckelmaun nach Italien.
28.
Aus bcttt Staat Friedrichs des Geästen.
(Bilder 4, 220—224.)
Was war es doch, das seit dem dreißigjährigen Kriege die
Augen der Politiker auf den kleinen Staat heftete, der sich an der
östlichen Nordgrenze Deutschlands gegen Schweden und Poleu,
gegen Habsburger nnd Bourbonen Heraufrang? Das Erbe der
Hohenzollern war fein reichgesegnetes Land, in dem der Bauer be¬
haglich aus wohlbebauter Hufe faß, welchem reiche Kaufherren in
schweren Galeonen die Seide Italiens, die Gewürze und Barren
der neuen Welt zuführten. Ein armes, verwüstetes Sandland
war's, die Städte ausgebrannt, die Hütten der Landleute nieder¬
gerissen, unbebaute Äcker, viele Quadratmeilen entblößt von Menschen
und Nutzvieh, den Launen der Urnatnr zurückgegeben. Als Friedrich
Wilhelm 1640 unter den Kurhut trat, fand er nichts als bestrittene
Ansprüche auf zerstreute Territorien von etwa 1450 Quadratmeilen,
in allen festen Orten seines Stammlandes faßen übermächtige Er¬
oberer. Auf einer mtstchern Öde richtete der fluge, doppelzüngige
Fürst feilten Staat ein, mit einer Schlauheit und Rücksichtslosigkeit
gegen feine Nachbarn, welche sogar in jener gewissenlosen Zeit Aus¬
sehen erregte, aber zugleich mit Heldenkraft und großem Sinn, der
mehr als einmal die deutsche Ehre höher faßte, als der Kaiser oder
eilt anderer Fürst des Reiches, lind als der große Politiker 1688
Scheel, Lesebuch. 10