114 Weltliche Baukunst und städtische Siedelung
der landwirtschaftliche Einschlag namentlich in kleineren Städten auch noch
weit über das Mittelalter hinaus bis in unsere Zeit sehr stark.
Durch ihre Anlage unterscheiden sich mittelalterliche Städte deut¬
lich von antiken (griechisch-römischen) und auch modernen Städten. Wäh¬
rend diese mehr nach einheitlichem Plan mit regelmäßigen, meist rechtwink¬
lig sich schneidenden Straßen und mathematisch genau abgezirkelten Plätzen
entworfen sind, zeigen jene vielmehr ein den Bedürfnissen und Bodenver¬
hältnissen entsprechendes organisches Wachstum. Sie verdanken dieser Ent¬
stehungsweise ebenso wie ihrer Bauart ein hervorragend malerisches Aus¬
sehen, durch das sie neuzeitlichen Städten so unendlich überlegen sind. Ähre
scheinbar regellose und verworrene Anlage ist keineswegs willkürlich, erweist
sich vielmehr bei näherer Betrachtung als wohldurchdachte Absicht.
Die Straßen lausen oft sternförmig von den Toren nach dem Mittel¬
punkt der Stadt, dem Marktplatz, zusammen, oder zwei Straßenzüge durch¬
queren die Stadt der ganzen Länge und Breite nach und schneiden sich recht¬
winklig, wo dann der Schnittpunkt zum Platz erweitert wird, oder eine Haupt¬
straße, die Fortsetzung einer Landstraße, trennt die Stadt, nach der Mitte zum
Platz sich verbreiternd, in zwei Hälften. Zwischen den Hauptstraßen stellen
engere Seitengassen (die eigentlichen Wohnstraßen) eine Verbindung her.
Nur selten verlaufen die Straßen gerade, ihre Krümmungen und Windun¬
gen bieten aber nicht nur den Vorteil stets wechselnder, malerischer Ansichten,
sondern schützen auch vor Wind und lästiger Staubentwicklung, vermeiden
die völlige Sonnenlosigkeit langer Straßenfronten nach Norden, passen sich
bei hügeligem Boden dem Gelände besser an und waren vor allem für die
Verteidigung gegen eindringende Feinde eine Notwendigkeit.
Plätze sind ohne jede langweilige und darum unkünstlerische Gleich¬
artigkeit stets ganz unregelmäßig angelegt. Die Hauptgebäude (Kirchen,
Rathäuser, Zunfthäuser u. dgl.) liegen durchaus nicht etwa rechtwinklig zur
Achse oder in der gleichen Flucht mit den den Platz umgebenden Häusern,
springen vielmehr im Winkel vor oder sind ganz auf eine Seite gerückt, zei¬
gen wohl auch nur eine Schauseite, während die anderen Seiten im Gewirr
dunkler Häusermassen verschwinden. Immer erscheinen die Plätze in sich ge¬
schlossen, stellen gleichsam einen Ruhepunkt im Wirrwarr der Straßen, zu¬
gleich einen künstlerischen Höhepunkt innerhalb des Stadtbildes dar. Sie
bilden also nicht, wie oft in modernen Städten, nur ein zufällig ausgespartes
Häuserviereck, in dem die Unruhe des Straßenverkehs noch gesteigert wird,
sondern einen organischen Bestandteil der Stadt, mögen sie als Markt- oder
Rathausplatz Mittelpunkt (nicht nur Durchgang!) des bürgerlichen Lebens
oder als Kirchplatz sonntäglicher Versammlungsort der Gemeinde und wo-