Die Eigenart der deutschen Musik 153 
Musik, die, ein Erbe der alten Kirche, von Luther bis in die breitesten Schichten 
des Volkes hinein getragen worden ist. Die Tonkunst ist dem Deutschen nie 
ein bloßer Zierat des Daseins gewesen, sondern innerste Herzenssache, sie war 
ihm, wie dereinst dem Griechen, ein Spiegelbild der höchsten Gedanken, die seine 
Seele bewegten. Darum hat sie auch Diesseits und Jenseits, Irdisches und 
Göttliches von allem Anfang an besonders eng und eigentümlich miteinander 
verquickt. Der übersinnliche.Zug unterscheidet sie stark von der sinnenfreu¬ 
digen Kunst der Romanen. Es ist darum keiu Zufall, daß die Harmonik 
ihre stärkste Seite ist: ihr viel verschlungenes Gespinst war das gegebene 
Ausdrucksmittel für die in der Wesen Tiefe trachtende Art der deutschen 
Meister. Die Franzosen haben mit ihrem beweglichen und schlagfertigen 
Geiste und ihrer Vorliebe für drastische Wirklichkeitsschilderung die rhyth¬ 
mische Seite der Musik besonders reich entwickelt, in Italien ist dank der 
Freude des Volkes am Sinnlich-Schönen und an klarer Formgebung die 
melodische zu besonderer Ausbildung gelangt. Der Deutsche dagegen scheut 
im Dienste eines charakterfesten Ausdrucks auch vor Härten nicht zurück, 
und dieser herbe Zug ist seiner Musik bis auf den heutigen Tag zu eigen 
geblieben. 
Häufig wird darauf hingewiesen, daß die Vorliebe für die Instrumental¬ 
musik im Gegensatz zum Gesänge ein besonderes Kennzeichen der deutschen 
Musik sei. Das ist indessen eine Erscheinung, die allen nordischen Völkern 
im Vergleich zu den sangesfreudigen Südländern gemeinsam ist. Wohl aber 
ist deutsch die große Freiheit und Mannigfaltigkeit, mit der die Instrumental¬ 
formen bei uns behandelt und entwickelt worden sind. Die französische In¬ 
strumentalmusik trägt noch heute die Spuren ihrer Herkunft aus dem Tanze 
an sich, die deutsche hat dagegen alle derartigen Züge längst abgestreift und 
eine Ausdrucksfähigkeit erlangt, die gerade in jüngster Zeit mitunter zu einer 
gefährlichen Aberschätzung gegenüber der Gesangsmusik geführt hat. 
So liegt die Hauptstärke der deutschen Tonkunst in der Weite und Tiefe 
ihres Gedanken- und Gefühlskreises. Sie hat aber dabei in ihren besten 
Vertretern auch die Fühlung mit dem breiten Volke niemals verloren und 
wenn ihr auch ab und zu deutsche Grübelei den Weg zum Herzen des Vol¬ 
kes zu versperren drohte, schließlich immer wieder das richtige Verhältnis 
hergestellt. Dabei ist sie sich von Luther bis auf Wagner ihrer Würde und 
ihrer sittlichen Aufgabe voll bewußt gewesen und so unserem Volke auch in 
den trübsten Zeiten eine treue und wirksame Erzieherin und Trösterin ge¬ 
worden. Wir wollen nie vergessen, daß in den kritischen Jahren zwischen 
dem Dreißigjährigen und dem Siebenjährigen Kriege einzig und allein die 
deutsche Musik durch Bachs und Händels Mund Zeugnis dafür abgelegt
	        
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