Persönlichkeit und letzte Jahre Kaiser Wilhelms I.
Von Erich Marcks.
In einer Fülle farbiger Einzelheiten steht das Dasein Wilhelms
während seiner Kaiserzeit vor unserm Auge. Geblieben war ihm, nach-
dem er 1872 eine ernste Krankheit überwunden hatte, die erstaunliche
Gesundheit und Spannkraft des Körpers und der Seele, der die Jahre
verhältnismäßig doch wenig anzuhaben vermochten und die sich ihm
nach der Verwundung von 1878 noch einmal verjüngt und erhoben
hatte; geblieben die helle, rücksichtsvolle Freundlichkeit zu allen, die ihm
nahe traten, die Neigung zum Scherze wie zur Weichheit, die groß-
herzig naive Einfachheit — auch die Einfachheit des täglichen Lebens,
der Kleidung, der Lagerstatt; und zugleich die Freude an der weiten
Welt, die noch der 90er rüstig durchreiste. In Berlin floß sein Tag unter
Aktenarbeit und Vorträgen, Mahlzeiten, Ausfahrten ganz regelmäßig
dahin; alle seine Gewohnheiten liefen unverändert weiter. Da waren
sein etgeutlichstes Lebensgebiet jene engen Zimmer im Erdgeschoß seines
Palastes, das letzte zumal, wo sich die tausend Zeichen persönlicher Er-
innernng, Bilder und Statuetten und allerlei kleine Geschenke seiner
^Angehörigen, Freunde und Diener die Jahrzehnte hindurch aushäuften
und ihn immer dichter umdrängten, so daß in all diesem Gewirr kaum
eben noch Raum blieb für die Aktenmassen, für den Tisch, an dem sein
Kanzler ihm gegenüber saß, für seinen eigenen Schreibtisch und das Pult
mit dem hohen, lehnenlosen Stuhle: er fand sich in allem zurecht und
trennte sich von keinem der altvertrauten Stücke. Hier im Palais umfing
ihn die gleichmäßige Macht der Jahre am stärksten; hier saß seine Ge-
mahlin ihm beim gemeinsamen Frühstücke gegenüber und übte jenen
sonderbaren Einfluß auf ihn aus, der nach der Analyse seines großen
Ratgebers aus Ritterlichkeit gegen die Frau, aus legitimistischer Ver¬
ehrung für die Fürstin und aus all den kleinen Wirkungen der Ge-
wöhnung und der täglichen Rücksicht auf Frieden und Behaglichkeit
zusammengesetzt war. Des Abends ging er gern in Schauspiel oder Oper
und nahm danach an der feinen geistigen Geselligkeit wieder in den
Gemächern der Kaiserin teil. Auch die große Repräsentation fuhr er fort
zu üben, in majestätischer Pracht und Würde, hier wie stets, wo er aus
der Stille heraustrat, voll untrüglichen Taktes, gütig und ritterlich; treu