Fürst Bismarck als Typus der naturalistischen Reizsamkeit usw. 203
halb der Geschichte der Nation hinein in die Empfindungen der cäsa-
rischen und taciteischen Jahrhunderte und ihrer Folgezeit. Dem ent-
spricht dann — in sehr merkwürdigen Formen — seine historische An-
schauung. Gewiß hat er modernen Geschichtsunterricht genossen, und
wenn er vor Kreisen spricht, die spezifische Träger der modernen Bildung
sind, etwa vor den Bonner Studenten, so verläuft seine Auffassung der
nationalen Vergangenheit in dem Denken etwa Rankes, neuerdings
unter leisen Zusätzen aus Chamberlain. Aber die eigentlich originale
Geschichtsauffassung des Kaisers ist das nicht. Wo sie zutage tritt, da
hören wir nichts von Rasse und von geschichtlichen Ideen, von Tendenzen
und Nationalismen und Universalismen, sondern alle Geschichte erscheint
zurückgeführt auf das Walten einiger weniger großer Personen, denen
sich die andern alsbald wunderbarlich gefügt und untergeordnet haben,
erscheint zurückgeführt vor allem auf die Fürsten und ihre Gehilfen.
Es ist die epische Anschauung des alten Germanentums, die hier
hervortritt, mag sich der Kaiser nun, gleich dem Sänger des Helden-
leiches frühester Zeiten, in rührenden Totenklagen noch halb lyrischer
Art ergehen, oder mag er sich in fortgeschritteneren Formen dem
Tone des anekdotischen Epos des 10. und 11. Jahrhunderts nähern, so,
wenn er etwa allerlei Erinnerungen an die Paladine Kaiser Wilhelms
des Alten auffrischt.
Aus diesem Historismus, dem gleichsam die Germanen Zeitgenossen
und dem Karl der Große und Friedrich Barbarossa noch lebendig gegen-
wärtig sind, sind die Grundvorstellungen des Kaisers hervorgewachsen zu
frischem und quellendem Dasein in dieser alternden Welt, mögen sie sich
nun auf die geistliche oder mögen sie sich auf die weltliche Seite des öffent-
lichen Daseins beziehen.
Wie archaisch in ihren Formen, wie ungeteilt'christlich ohne'grund-
sätzliche Anerkennung des Unterschiedes der Konfessionen neuerer Zeiten,
wie noch in letzten Momenten des Ahnenkultes wurzelnd erscheint doch
die Frömmigkeit Wilhelms II! Da taucht der Christengott aus als Herr
der Heerscharen wie einst bei den gewaltigen Ahnen des 17. und 18. Jahr-
Hunderts, dem Großen Kurfürsten und König Friedrich Wilhelm I.,
und da gilt es, das Reich dieses Gottes auszudehnen über die Reiche
dieser Welt hin bis zu den fernen Küsten der gelben Rasse. Und da stehen
für solche Ziele doppelte Heere zur Verfügung, ein Heer der Streiter, das
draußen in China für das Kreuz kämpft mit Kanonen und Bajonett,
und ein Heer der Beter, die christliche Gemeinde daheim, und keines kann
siegen ohne die kraftvolle Hilfe des anderen. Es sind Gedanken, die der
Kaiser in einer Schiffspredigt angesichts der helgoländischen Küste seiner
Mannschaft nahegelegt hat; wundersam erinnern sie an Anschauungen
der karolingischen Zeit, in der Herrscher wie Karl der Große von der
Kooperation ihrer beiden Armeen, des Heeres der Krieger im Felde
und des betenden Heeres der Mönche daheim, sprachen: nur daß an die