Die ägäische Kultur.
Von R. v. Lichtenberg.
Das Becken des ägäischen Meeres ist schon seit den ältesten Zeiten,
die wir mit den Mitteln der Wissenschaft erkennen können, eine Stätte
höchster Kulturblüte. Die Ausgrabungen, die Schliemann in den sieb¬
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu Troja, dann zu Mykenä
und Tiryns vornahm, eröffneten der wissenschaftlichen Erkenntnis eine
ungeahnte neue Welt. Seitdem haben die Forscher mit dem Spaten
rastlos weiter gearbeitet, und die Ergebnisse sind so großartige gewesen,
daß uns jetzt die Kultur- und Kunstgeschichte des ältesten Griechenlands
bis in das dritte Jahrtausend vor Christo wohl vertraut geworden ist
und wir ihr nicht mehr mit so hilflosem Staunen gegenüberstehen, als
es anfangs der Fall war. Dieses erste Staunen war freilich auch sehr
natürlich. Man denke, alles das, was uns durch Homer über die soge¬
nannte vorgriechische Kultur überliefert ist und was man, da es mit
gar vielem in der späteren griechischen Kultur nicht in Einklang gebracht
werden zu können schien, als mythologisch-poetische Erfindung zu be¬
trachten gewohnt war, — als ob es einem Dichter, und fei es auch der
genialste, möglich wäre, eine ganze, gewaltige Kultur aus der Phantasie
zu erfinden — alles das stand nun mit einem Schlage als greifbare
Wirklichkeit vor unseren Augen. Seitdem haben Ausgrabungen in
anderen Ländern, z. B. in Kleinasien, Vorderasien und Ägypten, sowie
philologische Untersuchungen uns auch über die Verbreitung dieser
Kultur, über die Beziehungen ihrer Träger zu anderen Völkern und über
manche geschichtliche Tatsachen Aufklärungen gebracht, so daß unsere
Geschichtskenntnis sich nun fast über den doppelten Zeitraum als vor
etwa zwanzig Jahren erstreckt. Denn war früher das sechste vorchrist¬
liche Jahrhundert in Europa das letzte, das noch von einem Strahle
wirklich historischen Lichtes getroffen wurde, während auch in Asien unb
Ägypten nur mehr oder minder unsichere Kunde weiter zurückreichte,
so ist jetzt für das ganze östliche Mittelmeerbecken die Geschichte bis
gegen 3000 v. Chr. aufgehellt. Freilich gibt es noch unendlich viele
Fragen zu lösen, noch viel Licht ist in dunkle Stellen zu bringen, aber
in den Grundzügen und besonders für die Entwicklung der Kultur steht
die Geschichte klar und deutlich da.
©djmieber, Lektüre III. 1