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IV. Teil: Ostasien.
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aufrichtiger Bewunderung und Freude. —Im Juni folgt das Irisfest, wenn die Teiche
und Gräben im Vorort horikiri von wundervollen Schwertlilien in den lieblichsten Zarben
schimmern. Auf dem Strome drängen sich die Boote, die bei Tage mit lustigen Flaggen,
des Nachts mit Laternen geputzt sind, und auf den Straßen längs des Flusses ziehen
fröhliche Gruppen nach den Teehäusern dieser Irisgärten. — Das Fest des Chrysan¬
themum im Oktober, eines der fünf großen japanischen Volksfeste, soll mehrere
Sammelpunkte haben, aber nirgends erblickt man die vornehme Blume in größerer
Schönheit und Vollkommenheit als in Tokio.
Am nämlichen Tage besuchten wir eine chinesische Gärtnerei. Sie hatte eigentlich
mehr künstliche als natürliche Reize. Zum großen TeNe besteht die höhere Gartenkunst dar-
in, die Natur zu verrenken, zu verkümmern, zu übertreiben und zu verschieben. Die
Nänder der Beete waren mit beschnittenen Teesträuchern besetzt. Büsche und Bäume
fanden wir mit großer Sorgfalt so gezogen und zurechtgeschnitten, daß sie Regenschirmen,
Booten, Häusern, Männern mit seltsamen hüten, Schildkröten, Kranichen und Ratzen
glichen. Die beliebte Form des Fuschijama fanden wir verschiedene Male wiedergegeben.
Manchen der Gestalten hatte man Gesichter, Hände und Süße von Porzellan, dort, wo
sie hingehören, angeheftet, so daß die pflanzen grünenden Puppen ähnlich sahen. Sehr
beliebt sind die kleinen Miniaturgärten. Ein solches Gärtchen ist gewöhnlich 9 m
lang und ebenso breit. Ikf^iesem Bereiche findet man einen vollkommenen park mit
einem See, mit Sommerhäuschen, Tempeln, Bäumen, Flüssen, Brücken,- alles ist mit
großer Geduld und Sorgfalt möglichst vollkommen der Wirklichkeit nachgebildet, hier
mochte der „See" 1V2 m im Geviert messen und war voll ganz kleiner Goldfischchen,
flm Ufer stand ein 50 Jahre alter Fichtenbaum von 40 cm höhe. In seinem
Schatten lag ein Schintotempel, der aus einem Stück holz von der Größe eines Mauer-
steines naturgetreu und sauber geschnitzt war. Auf einer hohen Felsenspitze, vielleicht
90 cm über dem See, wuchs ein schöner, 30 cm hoher Ahorn, der, vollendet in der
Form, 15 Jahre alt sein sollte. Das Aufziehen dieser Bäume im kleinen ist
eine der schönsten Künste, die nur die Japaner verstehen."
Runhardt hatte auch Gelegenheit, den Raiser in nächster Nähe zu sehen und knüpft
daran folgende Betrachtung: „Ein Raiser, der eine Ahnenreihe von 121 Kaisern
aufzuweisen hat! Man vergegenwärtige sich, der Ahn Muts-Hitos regierte zur
Zeit des Nebukadnezar und des Solon!" Oer Verfasser skizziert dann kurz das ge-
waltige Lebenswerk dieses Regenten, der sein Reich von Grund auf umbaute und es zu
einer Großmacht erhob — und von diesem Mann stammen die Worte: „Ich bin ver-
wirrt über meine geringe Fähigkeit, ein Raiserreich zu regieren!" Bevor
Runhardt Tokio verließ, machte er einen Ausflug nach derheiligstenStätteJapans,
nach Nikko, wo einem der größten Herrscher Japans (einem Schogunen, namens
Ije^asu, gestorben um 1600) in der Umgebung seines Grabes auf weitgedehntem Plan
eine Fülle heiliger Tempel errichtet wurde. Die Stätte liegt 110 km nördlich von Tokio
am (Dstabhang des Gebirges, das ganz Japan durchzieht, inmitten einer herrlichen
alpenartigen Berglandschaft. In den vielen Tempeln, hallen, Statuen erreichte
die japanische Baukunst und Bildnerei ihren Höhepunkt. „Ich fühlte bald, daß meine
Rräfte nicht ausreichten, so viel Bewundernswertes zu erfassen. Durch die Pracht ver-
wirrt, überschritt ich mit dem Führer den letzten Hof. Wir traten durch eine goldene
Pforte ein in einen dunkeln, goldenen Tempel, den letzten: Wir waren am Ende
angekommen. Jahre sind für den Renner erforderlich, um das, was ich bis dahin gesehen
hatte, so zu erforschen, bis er die ganze Schönheit, die ganze auf jede kleinste Rleinigkeit
verwendete Runst begriffen haben wird! Nikko soll heißen: „Sonniger Glanz", und ein
japanisches Sprichwort lautet: „Wer nie gesehen hat Nikko, darf auch nicht sagen: Rekko" *,
entspricht also dem allbekannten: „Vedi Napoli et poi muori!" (Schau Neapel und stirb.)
Auf der Fahrt von Jokohama nach Kioto.
§ 117 von Tokio ging nun die Reise zunächst südlich in die schmale Halbinsel hinein, die
die Einfahrt in die Bucht von Jokohama-Tokio im Westen begrenzt. Auf ihr liegt an der
nordwestlichen Rüste der kleine Hafen Ramakura. 3 km südlich davon befindet sich
der größte vaibutsu, d. i. die größte Buddhafigur (s. Abb. 1, § 117). „Der Daibutsu steht
im Freien und ragt über die ihn umgebenden alten Bäume hinaus. Ursprüng-
lich hatte er unter einem Tempel, der indessen bei einer Sturmflut im Jahre 1494 fort-
gerissen wurde, Schutz gesunden. Innerhalb der Figur ist eine Rapelle hergerich-
1 Rekko ^reizend.