Anna Boleyn. Ehescheidungsangelegenheit des Königs. 103
starb, war sie mit ihm verlobt worden. Da jedoch nach kano¬
nischem Rechte die Ehe mit der Wittwe des Bruders verboten
ist, gab Papst Julius II. wegen des nahen Verwandtschaftsgra¬
des Dispens. Auch Heinrich kamen über die Rechtmäßigkeit
seiner Ehe nicht eher Bedenken, bis Anna Boleyn als Hof¬
dame seiner Gemahlin am englischen Hose erschien. Katharina
von Aragonien, acht Jahre älter als Heinrich VIII., war von
großer Schönheit, eine echte Tochter Spaniens. Sie verlor je¬
doch mit den Jahren, wo der Altersunterschied Zwischen den bei¬
den Gatten mehr zu Tage trat, und durch Kränklichkeit t^re Ju¬
gendsrische ; und Heinrich, obgleich er früher seiner Gemahlin so
innig zugethan gewesen, daß nach den Worten eines Zeitgenossen
nie ein Mann seine Fran zärtlicher liebte, wandte sich anderen
Frauen zu. Zuerst entflammte Maria Boleyn seine Leiden¬
schaft , bis ihre jüngere Schwester Anna an den Hof kam, für
die er nun eine für England fast dämonische Neigung faßte.
Bereits an einen Perey verlobt, wurde dieses Bündnis auf Be¬
fehl des Königs getrennt, — für sie, nebst einem glänzenden
Geschenk an Juwelen, der erste Beweis, welch hohen und gefähr¬
lichen Gönner sie habe. Das Band war geknüpft, der Würfel
war gefallen. England sollte es bis in feine innersten Fasern,
bis in das Heiligtum feiner religiösen Anschauungen fühlen, daß
König Heinrich VIII. die schöne Anna Boleyn liebe. Als er
ihr aber feine Liebe eröffnete, erwiderte sie — durch das Bei¬
spiel ihrer verlassenen Schwester gewitzigt — mit eben so viel
Verbindlichkeit wie Entschiedenheit: „Ich würde mich sehr glück¬
lich schätzen, Sire, Ihre Gemahlin zu sein."
Durch diese Antwort wurde des Königs Leidenschaft noch
mehr gereizt, und Anna besaß Gewandtheit genug, seinen wieder¬
holten Liebesbeteuerungen nur so weit nachzugeben, um ihn
immer mit neuer Hoffnung, mit heftigerer Sehnsucht zu erfüllen.
Ihre Schönheit, ihr lebenslustiges und geistvolles Wesen machten
einen so überwältigenden Eindruck aus den König, daß er mit
allem Ernst und Eifer an die Lösung seiner Ehe mit Katharina
dachte.
Er wandte sich deshalb an den Papst und verlangte aus
Grund des mosaischen Gesetzes, nach welchem die Heirat mit der
Wittwe des Bruders verboten ist, Scheidung von Katharina.
Allein er mußte bald einsehen, daß dieses nicht so leicht ging
als er dachte. Zwar schnitt der päpstliche Stuhl die Angelegen¬
heit nicht geradezu ab, suchte sie aber in die Länge zu ziehen,
indem er die Neigung Heinrichs für eine flüchtige hielt und durch
die Zögerung dessen Leidenschaft abzukühlen glaubte. Auch wollte