88 Der sogenannte geistliche Vorbehalt.
Bedingung Duldung gewähren, daß sie sich des öffentlichen
Gottesdienstes unb aller Ceremonien enthielten1). Darüber ent¬
stand ein erbitteter Streit, der endlich dadurch feine Lösung
fand, daß der Grundsatz: Wessen das Land, dessen die
Religion^), als zu Recht bestehend anerkannt wurde und so¬
mit die andersgläubigen Unterthanen der protestantischen wie
der katholischen Stände bezüglich der Ausübung ihrer Religion
der Willkür ihrer Landesherren überlassen blieben, jedoch mit
der Beschränkung, daß ihnen im Falle der Beengung ihres Ge¬
wissens nach Verkauf ihrer Güter die Auswanderung freistehen
sollte. Am schlimmsten bestellt war es dabei nm die Refor¬
mierten, die, wie bereits bemerkt, von diesem Frieden ausgeschlossen
waren.
Die größte Schwierigkeit erregte aber der sogen, geistliche
Vorbeh alt. Die protestantischen Fürsten verlangten nämlich, wenn
1) Diese letzere Bestimmung besteht noch heute im gesegneten Meck¬
lenburg; noch ich Jahre 1881 durfte in (Schönberg der lutherische Geist¬
liche es wagen, einem katholischen Priester, bei Gelegenheit eines ka¬
tholischen Begräbnisses, den Eintritt in den Kirchhof zu verbieten, trotz¬
dem der kath. Geistliche nicht in amtlicher Eigenschaft die Leiche
begleitete. Öffentliche Knltushandlunqen der kath. Kirche sind bort nock
gesetzlich verboten - und der luth. Geistliche begrub die kath. Leiche.
2) Zu welcher Sklaverei auf dem Gebiete der Religion diese Be¬
stimmung geführt hat, bavon giebt bie Geschichte ber Kurpfalz ein beson¬
ders augenscheinliches Beispiel. Die pfälzischen Lanbe waren zur Zeit
bes Augsburger Religionssriebens bem lutherischen Glauben zugethan.
Da fiel es bem Kurfürsten Friebrich III. ein, ben lutherischen Glauben
für irrig unb bie Lehre Calvins für bie wahre Religion zu erklären.
Er trat zu bem reformierten' Bekenntnisse über, unb — das
ganze Lanb mußte seinem Beispiele folgen. Von feinen
beiben Söhnen hulbigte ber ältere, Lubwig, ber nachmalige Kurfürst, ben
Satzungen ber Lutheraner, währenb ber jüngere, ber Pfalzgraf Johann
Casimir, sich bem Glauben seines Vaters anschloß. Kaum hatte Lub-
nrig nach bem Tobe seines Vaters bie Regierung angetreten, als er so¬
fort bie burchgreifenbsten Maßregeln gegen ben Calvinismus ergriff.
9?icht einmal bie Leichenrebe an bem Grabe seines Vaters bürste der
calviniiche Hofprebiger halten. Alle Kirchen würben ben Lutheranern
geöffnet; alle reformierten Prebiger unb Lehrer mußten bas Lanb ver¬
lassen, unb bas Volk — s a h sich gezwungen, seinen Glauben
zum zweitenmal zu wechseln. Als ber Kursürst Lubwig starb,
war sein Sohn Friebrich IV. noch unmünbig , unb bie vormunbschaft-
liche Regierung kam an bessen Oheim, ben vorhin genannten Johann
Casimir. Als treuer Anhänger bes ealvinischen Bekenntnisses setzte er
eine neue Glanbenswanblung in den pfälzischen Landen ins Wer!, die
er mit so vielem Eifer durchsetzte, wie ihn sein Bruder bei der Aus¬
rottung des Calvinismus an den Tag gelegt hatte. Wer sich nicht
fügte, mußte ohne Gnade bas Land verlassen. Das war die protestan¬
tische Glaubensfreiheit, wie sie von den Kanzeln herab der angeblichen
Gewaltherrschaft ber katholischen Lehre entgegengehalten würbe.