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Zeit keinen Dichter gefunden, der sie unter sich zu einem nationalen Epos
vereinigte. Den Römern selbst ist dieser Mangel eines gewaltigen sagen¬
haften Hintergrundes für ihre früheste Vergangenheit erst später zum Bewußt¬
sein gekommen, seitdem sie die Heldensagen der Griechen kennen lernten; sie
suchten einen eigentümlichen Ersatz darin, daß sie einen Teil der griechischen
Helden auf den Boden ihres Landes durch Einwanderung versetzten und in
ihre Lokalsagen verwebten. Auf diese Weise haben dann Geschichtsschreiber
und Poeten sich eine Vorgeschichte zurecht erfunden, in der die Anlehnung
an die Griechen überall zu Tage tritt, während unter dem fremdartigen Ge¬
wände der ursprüngliche einheimische Kern der Lokalsage verdunkelt ist. Die
Erzählung von der Gründung Roms durch die Zwillingsbrüder R omu lus
und Remus, die Söhne des Gottes Mars und der Priesterin Rhea Silvia,
beruht allem Anscheine nach auf einer latinifchen Lokalsage, an der auch die
Mythe ihren Anteil hatte, die Beziehung aber, in die sie mit dem flüchtigen
Trojaner Äneas gesetzt wurde, ist nichts anderes als das Erzeugnis
willkürlicher Erfindung. Am weitesten ausgesponnen hat sie Vergilius,
der Hofpoet des Kaisers Augustus, von dem Bestreben geleitet, den Ursprung
des fürstlichen Hauses der Julier in die grauen Zeiten der trojanischen
Helden zurückzuführen.
Vermittelt wurde den Römern die Bekanntschaft mit der griechischen Heldensage
durch den Verkehr mit den Griechen Unteritaliens, und in besonders nahe Be¬
ziehungen waren sie zu den Bewohnern von Kum ä, der ihnen zunächst gelegenen Griechen¬
stadt in Kampanien, getreten. Von den Etruskern in ihrem ausgebreiteten Seehandel be¬
drängt und in ihrer Freiheit gefährdet, suchte diese älteste unter den griechischen Kolonieen
auf italischem Boden, die von Kymäern in Kleinasien begründet war, Schutz und Halt an
den Römern. Von dort her kam diesen die griechische Buchstabenschrift, und auch die in
griechischer Sprache geschriebenen Schicksalsbücher, die König Tarquinius der Stolze nach
der Sage von der kumäischen Sibylle erkaufte, entstammten dorther; nicht unmöglich, daß
aus ihnen die Fabel von der Einwanderung des Helden Äneas nach Latium abgeleitet
war. Zu Gründern latinifcher Städte wurden auch sonst altgriechische Helden gemacht.
Überhaupt zieht sich das Vorbild der homerischen Dichtung durch die früheste römische
Geschichte bis selbst in die historischen Zeiten hinab und ist wiedererkennbar in der Schil¬
derung von Schlachten und Kämpfen, die teils stattgefunden haben sollen, teils wirklich
stattfanden. Für die erstere Art ist ein Beispiel die Schlacht am See Regillus (496 v. Chr.)
aus dem letzten der Kriege, welche die Römer wegen Zurücksührung der vertriebenen
Königsfamilie der Tarquinier zu bestehen hatten, — in ihren Einzelheiten eine Nach¬
bildung homerischer Heldenkämpfe zwischen den Führern der feindlichen Parteien, sonst
aber mit den Umständen, die für Geschichte gelten sollen, ein durchaus zweifelhaftes Er¬
eignis. In ähnlicher Weise haben die Geschichtsschreiber der Römer den um hundert
Jahre späteren Entscheidungskampf mit Veji, der mit der Eroberung dieser Stadt endete
396, nicht allein mit Einzelzügen aus der Belagerung und Einnahme Trojas aus¬
geschmückt, sondern immer dieser Großthat aus dem Heldenzeitalter der Achäer gleich:
zustellen sich bemüht.