Full text: Grundriss der römischen Altertümer

§ 95. Allgemeiner Charakter der römischen Religion. 
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so potenzierte dieser die Erscheinungen des Universums zu ebenso 
vielen, sich bekämpfenden göttlichen Mächten, die der Mensch 
versöhnen zu müssen glaubte. Daher der allmälige Verfall der 
Religion. 
Ein Lehrgebäude von Glaubenssätzen, d. i. eine GlaubensMre, 
kennt indes die römische Religion so wenig als die griechische. 
Es gab auch keine Priester oder Lehrer, welche etwa in religiösen 
Dingen unterrichtet hätten. Die Priester zeigten nur, wie eine 
Gottheit zu verehren oder wie ein Opfer zu bringen sei. Über¬ 
haupt kümmerten sich die Römer weniger darum, das Wesen der 
Gottheit kennen zu lernen; sie begnügten sich, ihr Walten zu 
fühlen: kurz, sie neigten zur Praxis, d. i. zum Kultus oder zu 
äufserer Gottesverehrung. Darum bestand in Rom ein streng 
ausgebildeter, sehr ritueller Gottesdienst mit genau vorgeschrie¬ 
benen Gebeten, Opfern, Sühnungen, Gelübden und Festen. Da¬ 
mit verband der alte Römer einen strengen Charakter ernster 
Religiosität, eine tiefe Ehrfurcht vor allem Göttlichen, heilige 
Scheu (religio) vor der Gottheit, deren Wesen zwar verborgen, 
deren geheimnisvolles Wirken aber der Mensch überall in der 
äufseren Naturwelt wie im Leben des Menschen, in Familie und 
Staat wahrnimmt. Deshalb stellte der Römer das Leben des 
Menschen in allen seinen einzelnen Momenten unter göttlichen 
Schutz; von der Geburt bis zum Tode übernimmt je eine Gott¬ 
heit die Obsorge für einen Lebensabschnitt: sie wacht über Geburt 
und Wachstum des Kindes, über Jugend und Alter und alle Le- 
bensbeziehungen. So spricht sich beim Römer ein vorwaltendes 
Gefühl seiner steten Abhängigkeit von Gott aus. 
Daraus entsprang die enge Beziehung von Religion und Staat, d. i. von 
Kultus und öffentlichem Rechte, wie hei keinem anderen Volke des Altertums, 
so zwar, dafs das ältere Staatsrecht (ius 'publicum) sich gänzlich an das prie- 
sterliche Recht (ius pontificium) anlehnt und von ihm beherrscht ist. Der 
religiöse Glaube durchdringt die Verfassung, Gesetzgebung, die Familie, den 
Geschlechterverband (gentes), Patronat und Klientel, kurz alles öffentliche 
und private Recht. In ähnlicher Weise aber, wie das Recht religiös war, 
trug umgekehrt die Religion einen juridischen Charakter: es ist für den Römer 
eine RechtS2)fliclit, die religiöse Verehrung der Gottheit zu leisten, da diese 
ihn schützt. 
Eine religiöse Gesinnung oder eine Verinnerlichung der Religion kannte 
im allgemeinen der Römer nicht; jedoch hielt er strenge bis in die Zeit der 
Aufklärung an der "vaterländischen Religion (mos mciiovum), zwar war er 
tolerant gegen fremde Kulte, jedoch nur soweit, als dadurch die Staatsreligion 
nicht berührt wurde. 
Cm sich den Götterschutz in allen Lagen zu erhalten, schuf das prie—
	        
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