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Aufruf Alexanders an die Nation. Barclay zieht sich immer weiter zurück.
Dnjepr zu marschieren, ließ er zu Polozk das Korps des Grafen Wittgenstein zurück, um
Pskow, Nowgorod und St. Petersburg zu decken.
Inzwischen begab sich Alexander nach Moskau, wo er durch ein am 18. Juli unter¬
zeichnetes Manifest die ganze Nation zu den Waffen rief und von dem Patriotismus
aller Klassen ohne Ausnahme Opfer verlangte. Der öffentliche Enthusiasmus entsprach
seinem Aufruf.
Nach einer Reihe mörderischer Gefechte, die zwei Tage hindurch und mit Erfolg bei
Oftrowno geliefert wurden, hoffte Napoleon endlich am 27. Juli die Hauptarmee der Russen
zu erreichen, welche bei Witebsk auf dem linken Ufer der Düna stand. Allein sie entschlüpfte
ihm wieder. Barclay, der davon unterrichtet war, daß sein Waffengefährte aus Smoleusk
abmarschierte, wendete sich nach derselben Seite hin. Mit Tagesanbruch war er verschwunden,
ohne nur eine Spur zurückzulassen. Bagration dagegen wird bei Mohilew am Dnjepr von
Davoust erreicht und einige seiner Kolonnen unter Rajewski und Paskewitsch werden trotz ihres
tapfern Widerstandes geschlagen. Dennoch setzt er seinen Marsch auf Smolensk fort, über¬
schreitet unweit davon den Fluß, holt am 6. August die erste Armee ein und stößt mit der
seinigen zu ihr, indem er sich unter das Kommando von Barclay stellt. Smolensk war
der Schlüssel des eigentlichen Rußland, eine strategische Position ersten Ranges. Man mußte
sie wenigstens zu verteidigen suchen und Barclay entschloß sich dazu ohne Hoffnung auf Er¬
folg; denn die Überlegenheit der Franzosen war noch immer dieselbe trotz der unermeßlichen
Verluste, die sie bereits erlitten und welche die Invasion wenigstens um ein Drittel reduziert
hatten. Ein Avantgardengefecht fand zu Krasnoi statt und gab dem Marschall Ney und dem
König Murat von Neapel die so ungeduldig ersehnte Gelegenheit, ihren Mut zu beweisen.
Die geschlagenen Russen schlossen sich teils in Smolensk ein, teils gingen sie über den Dnjepr;
auf einen Augenblick setzten sie jedoch ihren Rückzug aus. Sofort eilte der Kaiser der Fran¬
zosen voller Ungeduld herbei. „Endlich habe ich sie!" rief er vertrauensselig aus. Allein,
alle Versuche, die er unternahm, Barclay zu fassen und zu einer Entscheidungsschlacht zu
bringen, scheiterten an der Klugheit und Kaltblütigkeit des russischen Generals, der trotz des
heimlichen Murrens seiner Umgebung und der kaum zurückgehaltenen Unzufriedenheit der
Nation den besten Gedanken verfolgte. Alles, was die Franzosen tun konnten, war, die
Festung zu nehmen. Sie war von dem tapferen General Rajewski verteidigt, nach ihm von
dem wackern Doctorow. Man warf Batterien auf, um diese alten, von krenelierten teils
runden teils viereckigen Türmen überragten Mauern, die einen malerischen Anblick gewährten,
zusammenzuschießen. Bald ist die Bresche gangbar; mit Tagesanbruch am 18. August be¬
ginnt der Sturm; man dringt in die Stadt ein uud findet sie in Brand geraten und fast
leer; ihre Verteidiger hatten sie, vor dem Feuer zurückweichend, mit den angesehensten
Einwohnern verlassen.
Napoleon, der sich 13 Tage im Witebsk aufgehalten, als gedächte er hier seine Winter¬
quartiere zu beziehen, überlegte noch zu Smolensk, wozu er sich entschließen solle. Denn er
verhehlte sich nicht, welche Schwierigkeiten ihn noch erwarteten, und, alles wohl berechnet,
erschien ihm die Besitzergreifung der litauischen und polnischen Provinzen als ein ganz leid¬
liches Resultat für einen zweimonatlichen Feldzug. Indessen hatte Ney, der Bravste der
Braven, am 19. an der Spitze der Avantgarde mit der russischen Arrieregarde beim Dorfe
Valutinagora ein glückliches Gefecht bestanden, das den Kaiser selbst herbeizog und mörderisch
wurde. Jetzt faßte dieser wieder Vertrauen zu feinem Stern, folgte der Bewegung und
rückte auf der Straße nach Moskau vor. Auf feiner Linken ließ er Oudinot und St. Cyr,
um Wittgenstein die Spitze zu bieten und Riga zu belagern; auf der Rechten stand Reynier