194 Erstes Buch. IV. Abschnitt: Bilder aus dem Karlingischen Weltreiche.
auch sonst als charakteristisch bezeugte kurze Nacken bei zurückgeworfenem
Kopfe noch gedrungener erscheint. Unter den großen Augen aber ragt
eine scharf gebogene Nase mit schneidigem Rücken, nimmt eine kurze Ober¬
lippe den kräftigen Schnurrbart auf, wird das Untergesicht endlich durch
ein Kinn abgeschlossen, das man am einfachsten als bismarckisch bezeichnet: so
sehr gemahnt es an den Schöpfer der neudeutschen Einheit. Bekrönt endlich
wird das Gesicht durch ein kolossales, fast kugelrundes Hinterhaupt, von dem
allerseits künstlich gelocktes Haar, durch den Goldreif noch eben zusammen¬
gehalten, herabfällt.
Es ist ein Bild der Kraft und des Geistes, dieser Kaiser zu Roß: es
ist der Franke, der ohne viel Federlesens sich auf das Roß der römischen
Imperatoren geschwungen.
Wie anders stellten sich spätere Zeiten den Kaiser vor!
Als Dürer von seiner Vaterstadt den Auftrag erhielt, die Kaiser
Sigmund und Karl den Großen zu malen, da schuf er aus den Anschau¬
ungen des späteren Mittelalters heraus das Idealbild, in dessen Banne
auch wir noch zu stehen pflegen. Nicht
in thatbereiter Manneskraft, als all¬
waltender Greis vielmehr ist der Kaiser
dargestellt; lang fließt unter der histori¬
schen Kaiserkrone das Haar herab, um
sich mit den reichen Wellen eines wohl¬
gepflegten Vollbartes zn vereinen, und
über der Fülle des Bartes thront eine
gebietende Lippe, eine langgezogene feine
Nase, blicken zwei Augen voll milder
Weisheit und patriarchalischer Güte,
zeugt die durchfurchte Stirn von Er¬
fahrungen reich in Dulden und Hoffen.
Der Körper des Kaisers aber verschwin¬
det fast völlig unter der Last jener
weltlichen und geistlichen Insignien, die
sich im Laufe von mehr als einem
halben Jahrtausend im Krönungsornate
der römischen Kaiser deutscher Nation
emporgetürmt hat.
Beide Auffassungen der Person
Karls, die der Karlingischen Statüette
wie die des Dürerschen Porträts, an sich so verschieden, beruhen auf richtiger
geschichtlicher Würdigung Karls. Der Herrscher des Reiterbildes, das ist der
Frankenkönig, der die Welt unter dem bewundernden Jubel der Zeitgenossen
unterworfen hat; Dürers Herrscher aber ist Kaiser Karl der Große, der Be¬
gründer einer neuen Zeit, der Träger der mittelalterlichen Weltordnung des
9. bis 15. Jahrhunderts. Noch gleichsam im Steigbügel, noch lebend und
waltend, Arm und Hand aus dem Bausch des Mantels weit zum Handeln
vorgestreckt, so erscheint der Kaiser des Broneeguffes; als Jdealgestalt eines
mittelalterlichen Herrschers, Geistliches und Weltliches in ruhiger Würde
Karl der Große.
Nach Albrecht Dürers Phantasiebildnis.