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heiligen Sprache, dem Latein, später gar unter dem Bibelverbote der Päpste.
Ulfilas gab dem gotischen Volke, seinen Königen, seinem Adel, seinen Seel¬
sorgern, jedem, der reich genug war, um sich ein Buch abschreiben zu lassen,
die Bibel in die Hand. Mochten auch wenige von dieser Wohltat Gebrauch
machen, die Möglichkeit war doch gegeben, und hätte das Volk länger gelebt
und seine Nationalität ungestört entwickelt, so wäre gewiß der Segen einer
allgemeinverständlichen Religionsurkunde dankbar empfunden worden."
Aus dem manischen Christentum leitet man folgende, dem Griechischen
entstammenden Lehnwörter ab: Kirche, Pfaffe, Samstag, Pfingsten,
Teufel, Engel, Heide, taufen. Siehe Friedrich Seiler, Die Ent¬
wickelung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnworts I, 85—89.
Das römische Weltreich nahm den athanasianischen Glauben an und ver¬
dammte den manischen; die ostgermanischen Völker, die es bedrohten, gelobten
sich der Lehre des Anus. Ein religiöser Gegensatz, der in der Folgezeit die
größte politische Bedeutung gewinnt, der den jungen Germanenstaaten, die auf
römischem Boden erwachsen, die Lebenskraft bricht. Welch eine Zukunft, wenn
die Goten jenseits der Donau geblieben wären, da als manische Christen eine
nationale Kultur entwickelt und diese allen germanischen Stämmen, auch den
westgermanischen, gebracht hätten! Wahrlich, vielleicht hätte Ulfila das Werk
des Bonisatius verhütet, und das Gebot des Papstes hätte nicht über deutsche
Köpse und Herzen eine Macht gewonnen, die wir gerade heute tief beklagen.
Vielleicht.
„Eine ganz neue Fvrtwirknng," sagt W. Scherer, „neu der Zeit,
neu der Art nach, erlebt die Ulfilanische Bibel, seit im 19. Jahrhundert
Jacob Grimm sie zum Fundamente der vergleichenden Grammatik aller
germanischen Sprachen genommen hat; sie ist dadurch der Schlüssel zum
germanischen Altertume geworden. Ulfila ist unser Führer zu den Ge¬
heimnissen der nationalen Urzeit; er hat sein ganzes Volk überlebt. Die
gotischen Lieder, welche einst den Kern unserer Heldensage ausmachten, die
Lieder von Ostrogota, Ermanerich, Theodemer, Theoderich, sind längst ver¬
klungen: die gotische Bibel in stattlichen Bruchstücken (in Mailand, Turin,
Wolfenbüttel, Upsala; in Upsala der prachtvollste Überrest: Gold- und
Silberschrift auf purpurfarbenem Pergament, feines silbernen Einbandes
wegen Codex argenteus genannt) steht mitten in der Wissenschaft als Hei¬
ligtum aufgerichtet und verehrt, unvergangen und unvergänglich." Ver¬
nehmen wir einige Zeugnisse aus Ulfilas Sprache, die uns Einblick in das
gotische Leben an der Donau und am Schwarzen Meer geben! Noch war
Viehzucht die wichtigste Beschäftigung. Daher übersetzte Ulfila Mammon:
faihu-]brain = Viehgedräng, Viehmenge — Schuldner: faihu-skula —
habsüchtig: faihu-friks = viehliebend, viehbegehrend — Weinschlauch:
balgs = Tierhaut, Fell, Balg. Die Goten führten den Pflug (hoha),
düngten den Acker (akrs) mit Mist (maihstus). Noch sah man das
älteste Verfahren der Ernte, die Ähre raufen: ahsa raupjen, daneben
aber auch das neuere, von den benachbarten Römern erlernte: die Ernte
mit der Sichel (giljaa) schneiden (sneij>an). Dreschen war Arbeit des