Full text: Der Uebergang zur Neuzeit (Teil 5)

Riehl: Das Standesbewußtsein der Armut. 
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Hebung der besitzlosen Arbeiter zur Erkämpfung ihres sozialen Rechts war 
freilich schon einmal weltgeschichtlich geworden, aber nicht im germanischen 
Volksleben, sondern im römischen Altertum. Viel eher müssen wir auf den 
Sklavenkrieg des Spartakus, auf die Unruhen der Gracchen zurückblicken 
als auf das germanische Mittelalter, wenn wir die ersten Ansätze zur Bil¬ 
dung des vierten Standes als der zum sozialen Selbstbewußtsein erwachten 
Armut aufspüren wollen. Diesen Unterschied hat schon Shakespeare aufs 
feinste herausgefühlt. In überraschend wahren Zügen schildert er das ganze 
Behaben des sein Recht ahnenden Proletariates im Coriolan. Es zeugt 
für den göttlichen Seherblick des großen Poeten, für seinen wunderbaren 
historischen Instinkt, daß er in einem römischen Stück dieses Proletariat 
zeichnet, für welches in den Tragödien aus der englischen Geschichte kein 
Raum gewesen wäre; denn zu Shakespeares Zeiten gab es wohl arme 
Teufel in England, aber kein zum sozialen Bewußtsein sich aufringendes 
Proletariat. 
Ich bemerkte oben, daß alle Stände durch ihre sozialen Sünden Geburts¬ 
helfer bei dem vierten Stande gewesen seien. So sind es auch wieder 
vorzugsweise die Sünden der besitzenden Klassen, welche die Verkehrtheiten 
der sozialistischen und kommunistischen Lehren bei den Besitzlosen einimpfen 
und fortpflanzen halfen. Darüber spricht Vilmar, bei dem man gewiß 
keine zu große Vorliebe für das kommunistische Proletariat, keine über¬ 
triebene Feindschaft gegen die Aristokratie des Besitzes argwöhnen wird, in 
seinen Schulreden folgendes schlagende Wort: 
„In unserer Mitte, in unseren Gesellschaften, in unseren Familien, 
in unseren Herzen wohnt schon der Kommunismus. Wir selbst sind Kom¬ 
munisten. Ehe wir die Franzosen, ehe wir unseren Landsmann, den Schneider 
Weitling und seine Helfershelfer, strafen und richten, wollen wir uns selbst 
richten und strafen. Oder hat nicht die Begierde nach einem behaglichen, 
mit allen Reizen der modernen Bequemlichkeit ausgeschmückten Leben bei 
uns in den letzten Jahrzehnten auf eine schreckenerregende Weise zugenommen? 
Ist nicht die Putzsucht, die Kleiderpracht, der Modehunger bei uns in einer 
Weise im Schwünge, wie sie seit dem sechzehnten Jahrhundert nicht ge¬ 
wesen sind? Achten wir denn wohl ein Leben, welches nicht mit reichen 
Möbeln, schwellenden Polstern, sybaritischen Betten, mit goldenen Uhren 
und Ketten, mit echten Ringen und Knöpfen und mit all dem tausendfältigen 
namenlosen Flimmer und Flitter reichlich ausgestattet ist, noch für ein 
Leben? Ist nicht der Genuß dieses Komforts und das Prangen mit dem¬ 
selben, ist nicht das von Jahr zu Jahr verschwenderischer gewordene Gesell¬ 
schaftsleben uns eine völlig unentbehrliche Bedingung unseres Daseins ge¬ 
worden? Übernehmen wir denn nicht Geschäft und Amt hauptsächlich, wo
	        
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