§ 106. Ausbruch der Revolution. g3
Mitregierung eingerichtet wäre. Verschiedene Mitglieder des Adels und
namentlich des niederen Klerus traten in ihre Reihen. Ihre Wortführer
waren: Graf M i r a b e a u, ein Redner von dämonischer Begabung, aber be-
fleckt durch ein wüstes, unsittliches Jugendleben und zerfallen mit seiner
Familie; Abbe S i e y 6 s (spr. Siähs), der schwärmerische L a fa y e t t e, der
sich an den Freiheitskämpfen in Amerika beteiligt hatte, und der Astronom
Bailly. Sieyös rief aus: „Was ist der dritte Stand? — Alles,
die Nation. Was bedeutet er im Staate? — Nichts!"
3. Diese Vorgänge versetzten die Bevölkerung von Paris in die ®mStei>e§
größte Aufregung. Der König schwankte, eines Entschlusses und einer ü6£Se'ber
entschiedenen Tat unfähig, zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand hin u- 3uli
und her. Da er den Garden in der Hauptstadt nicht traute, berief er
einige Regimenter aus der Provinz nach Versailles. Allein diese An-
ordnung deuteten Mirabeau und andere als einen beabsichtigten An¬
griff aus die Nationalversammlung. Die Kunde davon sowie die
plötzliche Entlassung des volksfreundlichen Ministers Necker gaben in
Paris das Signal zur Empörung. Und nun erfolgte ein Wutaus-
bruch des rohen, zuchtlosen Pöbels. Die zusammengerottete Menge
stürmte unter wüstem Geschrei durch die Straßen und erzwang die
Übergabe der Bastille (einer alten Burg, die als Staatsgefängnis,
namentlich für willkürlich Verhaftete, benutzt wurde), deren Zusammen-
bruch für einen Sieg der Volksfonveränität über das „Königtum von
Gottes Gnaden" gehalten wurde (14. Juli 1789, Anfang der fran¬
zösischen Staatsumwälzung, noch heute als Geburtstag der Republik
gefeiert). Ein zweiter Ausstand (Oktober) zwang den König und seine
Familie zur Übersiedelung von Versailles nach Paris; die
Nationalversammlung folgte. Unterdessen wurde in Paris ein demo-
kratischerGemeinderat (Bailly Vorsitzender) eingesetzt, eine Bürger¬
wehr unter dem Namen der Nationalgarde organisiert und Lasayette
als Befehlshaber an die Spitze gestellt. Als Abzeichen trug sie
eine dreifarbige Kokarde (Trikolore): rot und blau, die Farbe von
Paris, und weiß, die Farbe der Bourboueu. Die Greueltaten des
Pariser Pöbels wiederholten sich im offenen Lande. Rachedürstend
plünderten und zertrümmerten die Bauern die Burgen des Adels (vgl.
Chamissos Gedicht „Schloß Boneourt") und entschädigten sich so durch
Raub. Zerstörung und Mord für den Druck, unter dem sie bisher geseufzt.
4. Die Nationalversammlung, die sich von nun an die
konstituierende nannte, ging an ihr Werk und arbeitete mit fieberhafter
Eile an der Umwandlung des Staatswesens. In der Nachtsitzung vom "'SieTeüe8'
4. auf den 5. Aug. 1789 beschloß sie, daß sämtliche aus dem mittel- ei a,u"9-
alterlichen Lehenssystem stammenden Einrichtungen und Privilegien Abschaffung d-r
(Mute, Fronden, Jagdrecht, gutsherrliche Gerichtsbarkeit usw.) auf-' Wun[t3tcn-
gehoben werden sollen, daß die Verteilung der Steuern eine gerechte
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