Giesebrecht: Das Kaisertum Karls des Großen.
71
Maifeldes und wurde bei allen wichtigen Staatsgeschäften oder bedeu¬
tenden Reichsgesetzen zu Rate gezogen. Der Staatsrat dagegen war nur
aus den hohen Hofbeamten und den Magnaten des Reiches zusammen¬
gefetzt, die der Kaiser eines besonderen Vertrauens würdigte und entweder
zeitweise oder dauernd in seine Nähe berief.
Wie die Sterne die Sonne, so umgaben die Paladine den großen
Kaiser, der sie alle verdunkelte und überstrahlte. Nicht freilich durch Glauz
und Prunk der äußeren
Erscheinung feffelte er
die Blicke derer, die sich
ihm nahten, aber es um¬
spielte seine hohe und
würdevolle Gestalt ein
blendender Schein gleich¬
sam höheren Lichtes, in
dem die Klarheit seines
großen Geistes auszu¬
strahlen schien. Jene
langen weißen Locken,
die im Alter sein Haupt
zierten, die großen leb¬
haften Augen, die stets
heitere und ruhigeStirne,
die mächtige Greisenge-
stalt, der es doch nicht
an Anmut fehlte: dies
ganze Bild hat sich tief
nicht nur den Zeitge¬
nossen eingeprägt, son¬
dern Geschichteuud Sage
haben es für alle Zeit
festgehalten, und noch
wächst niemand zum Jüngling yeran, der es nicht in sicy aufnähme.
Viele hochstrebeude Herrscher hat das Jahrtausend nachdem erzeugt, aber
nach Höherem hat keiner gerungen, als Karl zur Seite gesetzt zu wer¬
den; damit begnügten sich die kühnsten Eroberer, damit die weisesten
Friedensfürsten; das französische Rittertum der späteren Zeit verherr¬
lichte Karl als den ersten Ritter; das deutsche Bürgertum als den väter¬
lichen Volksfreund und den gerechtesten Richter; die Poesie aller Völker
in den folgenden Zeiten stärkte und kräftigte sich immer von neuem an
seiner gewaltigen Erscheinung: nie vielleicht ist reicheres Leben von der
Wirksamkeit eines sterblichen Menschen ausgegangen.
Thron Karls des Großen im Münster zu Aachen.