Full text: [Teil 5 = Untertertia, [Schülerband]] (Teil 5 = Untertertia, [Schülerband])

Riehl: Im Jahr des Herrn. 
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Da kam dem Weib die Sprache wieder: „Nein!" rief sie und 
richtete sich hoch auf, „selig die Mutter, die so ihr Leben gegeben für 
ihr Kind! Zum Himmel schwebend, wird ihre Seele den Knaben geschaut 
haben, der noch trinken wollte an der toten Brust, und der nun doch 
geborgen war. Du sagst, vor Schwäche habe sie den Geist aufgegeben? 
O nein! Im Übermaß der Freude zersprang ihr das Herz, als sie nach 
Todesmühen ihr Kind nun endlich doch gerettet sah, imd, von Wonne 
bewältigt, hauchte sie das Leben aus." 
Der Mann versank in tiefes Schweigen. Er mußte sein Gesicht 
verhüllen und abwenden von dem Weibe, das, friedlich auf ihr schlafendes 
Kind niederblickend, am Feuer saß. 
Endlich raffte er sich wieder auf. Mit großen Schritten ging er 
am verglimmenden Feuer auf und nieder, und noch wilder als vorher 
rollten seine Augen. 
„Wir mögen jetzt nahe der Stunde sein," rief er, „wo das alte 
Jahr dem neuen die Hand reicht. Die Pfaffen, wenn sie die Jahre 
zählen, sagen: Im Jahre des Herrn! — aber bei diesem gottverlassenen 
Jahr voll Schmach und Elends sollte man billig sagen: Im Jahre 
des Teufels!" 
„Und dennoch", sprach milde das Weib, „hat das eine Jahr, in 
dem der Herr als Mensch den Menschen geboren wurde, einen solchen 
Überschuß des Heils über alle folgenden Jahre gebracht, daß auch das 
schlimnlste Jahr nach der Geburt des Herrn immer noch ein Jahr des 
Herrn sein wird." 
6. 
Der Mann nahm das Kind vom Schoße der Mutter. „Die Stunde 
ist kostbar! Künftiges schauet in der letzten Jahresstunde, wer sich, mit 
dem Schwert umgürtet, auf das Dach seines Hauses setzt, den Blick gen 
Osten gewendet. Nur eins will ich heute erkunden: ob wir den morgenden 
Tag überleben! Ist dieser Fels mit seiner Kuppe nicht jetzt unser 
einziges Haus? Laß mich hinaufsteigen mit dem Kinde nach altväter¬ 
lichem Brauch! Und indes ich oben die Zukunft beschwöre, gedenke du 
hier des sühnenden Opfertodes, in dem das nordische Volk seinen besten 
Mann, den König Domaldi, hinschlachtete, damit der Hunger von dem 
Lande genommen werde!" 
Da rief das Weib verzweiflungsvoll: „So höre du vorher die Ge¬ 
schichte einer andern Opferung. Höre, wie es erging, da Jehova dem 
Abraham befahl, daß auch er sein bestes Gut, seinen Sohn Isaak, am 
Altare schlachte!" 
Aber der Mann hörte nicht. Er stürmte mit dem Kinde zur Felsen¬ 
kuppe hinauf und verschwand hinter den Büschen. 
Das Weib wollte ihm nacheilen, die Mutter dem Kinde. Doch als
	        
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