Riehl: Im Jahr des Herrn.
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Da kam dem Weib die Sprache wieder: „Nein!" rief sie und
richtete sich hoch auf, „selig die Mutter, die so ihr Leben gegeben für
ihr Kind! Zum Himmel schwebend, wird ihre Seele den Knaben geschaut
haben, der noch trinken wollte an der toten Brust, und der nun doch
geborgen war. Du sagst, vor Schwäche habe sie den Geist aufgegeben?
O nein! Im Übermaß der Freude zersprang ihr das Herz, als sie nach
Todesmühen ihr Kind nun endlich doch gerettet sah, imd, von Wonne
bewältigt, hauchte sie das Leben aus."
Der Mann versank in tiefes Schweigen. Er mußte sein Gesicht
verhüllen und abwenden von dem Weibe, das, friedlich auf ihr schlafendes
Kind niederblickend, am Feuer saß.
Endlich raffte er sich wieder auf. Mit großen Schritten ging er
am verglimmenden Feuer auf und nieder, und noch wilder als vorher
rollten seine Augen.
„Wir mögen jetzt nahe der Stunde sein," rief er, „wo das alte
Jahr dem neuen die Hand reicht. Die Pfaffen, wenn sie die Jahre
zählen, sagen: Im Jahre des Herrn! — aber bei diesem gottverlassenen
Jahr voll Schmach und Elends sollte man billig sagen: Im Jahre
des Teufels!"
„Und dennoch", sprach milde das Weib, „hat das eine Jahr, in
dem der Herr als Mensch den Menschen geboren wurde, einen solchen
Überschuß des Heils über alle folgenden Jahre gebracht, daß auch das
schlimnlste Jahr nach der Geburt des Herrn immer noch ein Jahr des
Herrn sein wird."
6.
Der Mann nahm das Kind vom Schoße der Mutter. „Die Stunde
ist kostbar! Künftiges schauet in der letzten Jahresstunde, wer sich, mit
dem Schwert umgürtet, auf das Dach seines Hauses setzt, den Blick gen
Osten gewendet. Nur eins will ich heute erkunden: ob wir den morgenden
Tag überleben! Ist dieser Fels mit seiner Kuppe nicht jetzt unser
einziges Haus? Laß mich hinaufsteigen mit dem Kinde nach altväter¬
lichem Brauch! Und indes ich oben die Zukunft beschwöre, gedenke du
hier des sühnenden Opfertodes, in dem das nordische Volk seinen besten
Mann, den König Domaldi, hinschlachtete, damit der Hunger von dem
Lande genommen werde!"
Da rief das Weib verzweiflungsvoll: „So höre du vorher die Ge¬
schichte einer andern Opferung. Höre, wie es erging, da Jehova dem
Abraham befahl, daß auch er sein bestes Gut, seinen Sohn Isaak, am
Altare schlachte!"
Aber der Mann hörte nicht. Er stürmte mit dem Kinde zur Felsen¬
kuppe hinauf und verschwand hinter den Büschen.
Das Weib wollte ihm nacheilen, die Mutter dem Kinde. Doch als