362 IV. Abschnitt. Der Mensch im Verkehr mit seinesgleichen. -
seine Blödigkeit angenehm und hält ihn für einen Fremden, dessen Sitt-
samkeit bewundert wird. Die Damen danken ihm auf eine gnädige Art,
und die Fächer rauschen ihm mit Beifall entgegen. Man bietet ihm
einen Stuhl an, und er setzt sich mit Anstand nieder. Eine jede fragt
ihre Nachbarin, wer dieser Herr sein müsse? Es kennt ihn keine. Sie
lassen sich in ein Gespräch mit ihm ein; er redet bescheiden. Man be¬
urteilt die Oper, er beurteilt sie mit, und sein Urteil findet Beifall.
Die Sänger werden gelobt, er lobt sie mit Geschmack. Man redet vom
Hofe, er kennt die Welt; man redet von Staatssachen, man findet seine
Gedanken sehr fein; man redet böses von den übrigen Logen, er schweigt,
und auch sein Stillschweigen wird gebilligt, weil man ihn für einen
Fremden hält, welcher noch ganz unbekannt oder zu bescheiden ist, in
einer fremden Gesellschaft aus eine boshafte Art witzig zu sein. Die
Oper ist zu Ende. Er hat die Gnade, seine Nachbarin an die Kutsche
zu führen. Er thut es mit einer ungezwungenen Wohlanständigkeit. Er
darf die Hand küssen, und seine Excellenz wünschen, indem sie fortfahren,
daß der gnädige Herr wohl ruhen möge. Glückselige Veränderung! Der
gnädige Herr! der, welcher nur vor wenig Stunden noch beschämt am
Kamine stand und allen Bedienten lächerlich war, ist jetzt die Bewun¬
derung der ganzen Gesellschaft! Man erkennt seine Verdienste, denn man
sieht seine prächtigen Kleider.
Da wir bloß den Kleidern den entscheidenden Wert unsrer Verdienste
zu danken haben, so scheue ich mich nicht zu gestehen, daß ich wenig
Personen mit so viel Ehrfurcht ansehe als meinen Schneider. Ich be¬
suche seine Werkstatt oft und niemals ohne einen heiligen Schauer, wenn
ich sehe, wie Verdienste, Tugenden und Vernunft unter seinen schaffenden
Händen hervorwachsen und teure Männer durch den Stich seiner Nadel
aus dem Nichts hervorspringen, so wie das erste Roß an dem Ufer
mutig hervorsprang, als Neptun mit seinem gewaltigen Dreizack in den
Sand stach.
Vor etlichen Wochen ging ich zu ihm und fand ihn in einem Chaos
von Sammet und reichen Stoffen, aus welchen er erlauchte Männer und
Gnaden schuf. Er schnitt eben einen Domherrn zu und war sehr unzu¬
frieden, daß der Sammet nicht zureichen wollte, den hochwürdigen Bauch
auszubilden. Ueber dem Stuhle hingen zwo Excellenzen ohne Aermel.
Einer seiner Gesellen arbeitete an einem gestrengen Junker, welcher sich
von seinem Pachter zwei Quartale hatte vorschießen lassen, um seine
hochadeligen Verdienste in der bevorstehenden Messe kenntlich zu machen.
Auf der Bank lagen noch eine ganze Menge junger Stutzer, liebens¬
würdige junge Herrchen und seufzende Liebhaber, welche mit Ungeduld
auf ihre Bildung und die Entwickelung ihres Wesens zu warten schienen.
Unter der Bank stak ein großes Paket schlechter Tücher und Zeuge für Ge¬
lehrte, Kaufleute, Künstler und andere niedere Geschöpfe. Zwei Jungen,
welche noch nicht geschickt genug waren, saßen an der Thüre und übten sich
an dem Kleide eines Poeten. Ich stand bei dem Meister, hielt den Hut
unterm Arme und blieb länger als eine Stunde in eben der ehrfurchts¬
vollen Stellung, welche ich annehme, wenn ich in Gesellschaft vornehmer
und großer Männer bin. Mein Schneider ist in dergleichen Fällen
schon von mir ein solches ehrerbietiges Stillschweigen gewohnt, daß er