Das karolingische Staatswesen. II. Die Reichsversammlungen. 591
suchte er von ihnen über die Lage der Dinge in den verschiedenen Provinzen
und in den angrenzenden Ländern sich möglichst genaue Kunde zu verschaffen.1
Die verschiedenartigsten Gegenstände kamen auf den allgemeinen Reichs-
versammlungen zur Verhandlung, Fragen des kirchlichen wie des politischen
Lebens, ohne Rücksicht darauf, ob sie die Allgemeinheit oder nur das Interesse
einzelner betrafen; auch für die Gesetzgebung konnte die Mitwirkung der
Grofsen nicht wohl entbehrt werden, ebensowenig bei der Beurteilung und Be¬
strafung von Verbrechen wider den Staat oder die Person des Herrschers.2 Ob
der Versammlung ein förmliches Recht der Mitwirkung, oder nur eine beratende
Stimme zukam, läfst sich schwer entscheiden. Bald heifst es, die Beschlüsse
seien gefafst ‘consilio et consensu Prancorum et procerum suorum’, bald wird
nur des Rates (consilium), bald nur der Zustimmimg (consensus) derselben
gedacht. Karl d. Gr. hat in allen wichtigen Angelegenheiten sich des Rates
und der Zustimmung der Grofsen versichert, Ludwig d. Pr. machte aus dem,
was Karl d. Gr. freiwillig gewährt hatte, ein Recht der Grofsen, indem er ohne
ihre Zustimmung nichts unternehmen zu wollen versprach.3 Seitdem sank das
Königtum von seiner beherrschenden Stellung, die es unter Karl d. Gr. gehabt,
herab; der Einflufs der Grofsen wuchs zu solcher Bedeutung heran, dals der
karolingische Staat seit -Ludwig dem Frommen mehr wie eine aristokratische
Republik, denn wie eine Monarchie erscheint. Nach Schlufs der Beratungen
erfolgte die Verkündigung der gefafsten Beschlüsse an das versammelte Volk,
teils durch Verlesung der über die Verhandlungen aufgenommenen Protokolle
oder sonstigen Schriftstücke, teils durch den Mund des Herrschers.4 Die Be¬
schlüsse wurden aufgezeichnet, zu gröfserer Bekräftigung wTohl auch von den
Anwesenden mit Kamensunterschrift versehen.5 Ein solches in einer Reichsver-
1) De ord. pal. c. 36: Secunda autem ratio regis erat interrogatio, quid unusquisque ex ilia parte regni,
qua veniebat, dignum relatu vel retraetatu securn afferret, quia et lioc eis non solum permissum, verum etiam
arctius commissum erat, ut hoc unusquisque studiosissime, usque dum reverteretur, tarn infra quam extra regnum
perquireret, si quid tale non solum a propriis vel extraneis, verum etiam sicut ab ainicis ita et ab inimicis
investigaret, intormissa interim nec magnopere unde sciret investigata persona. Si populus in qualibet regni
parte, regione seu angulo turbatus, quae causa turbationis esset, si murmur populi obstreperet, vel tale
aliquid inaequale resonaret, unde generale consilium tractare aliquid necessarium esset et caetera his similia.
Extra vero, si aliqua gens subdita rebellare, vel rebellata subdere, si necdum tacta insidias regni moliri vel tale
aliquid oriri voluisset. In bis vero omnibus, quaecumque cuilibet periculo imminerent, illud praecipue quaereba-
tur, cuius rei occasione talia orirentur. Vgl. dazu die 1 capitula tractanda cum comitibus, episcopis et abbatibus
811’ und ‘brevis capituloruin, quibus fldeles nostros episcopos et abbates alloqui volumus et commonere de communi
omnium nostrorum utilitate ’ (811) Leg. S. II, I, 161 ff.
2) Recht klar tritt die Mannigfaltigkeit der auf den Reichsversammlungen zur Verhandlung gelangenden
Angelegenheiten in dem Protokoll der Frankfurter Synode und Reichsversammlung von 794 hervor, s. Annalen,
Abt. H, 1, 125 zu 794a- b. e.
3) Wenigstens legt Pasch. Radb. in der V. Valae II, 10 SS. II, 555 Ludwig die Worte in den Mund:
Porro deinceps nihil tale, nihil sine vestro consilio me acturum ulterius profiteor.
4) Vgl. Waitz m, 598 n. 3. 4.
5) Capit. aquisgr. (801—813) Leg. S. II, I, 170: — qui et ipse manu propria firmavit capitula ista, ut
omnes fi deles manu rollorare studuissent. Conv. colon. (843) Leg. 1,376: capitula-—quae etiam subscri-
ptione eiusdem principis et episcoporum ac caeterorum fidelium dei confirmata fuerunt, vgl. "Waitz IH, 599 n. 1.