Full text: Anleitung zur geschichtlichen Lektüre

Die Entwicklung der Geschichte wird von Ideen1) 
beherrscht, und die Menschen sind deren Werkzeuge und 
Träger, bewußt oder unbewußt. Historische Ideen sind gei¬ 
stige Einflüsse in der Geschichte, mächtige Ausflüsse der 
Volksseele, die einer Bewegung, Begebenheit oder Tat je 
nach den Elementen, welche in ihr Zusammenwirken, einen 
besonderen Stempel aufdrücken. Es sind also rein geistige 
Mächte. Sie arbeiten in der Geschichte unablässig in und 
an der Gestaltung der Dinge. „Sie begleiten,“ sagt ein be¬ 
deutender neuerer Geschichtsschreiber (Gervinus), „un¬ 
sichtbar die Begebenheiten und äußeren Erscheinungen, 
durchdringen und gestalten innerlich die ganze Geschichte, 
und welcher Geschichtsschreiber ihrem Wesen und Wirken 
nachspürt, ihr Hervorgehen und erstes Erscheinen, ihr Be¬ 
streben nach Sieg und Herrschaft und ihr Verschwinden 
und Weichen, wie andere neue, die an ihre Stelle treten, uns 
darstellt, der übt sein eigentliches Geschäft mit Meister¬ 
hand 2). 
Mächtig wirkende Ideen von immer neuer treibender 
Kraft, die, um das Wort eines geistreichen Engländers (Lord 
Akton) zu gebrauchen, „Flügel annehmen und Meere und 
Ländergrenzen überfliegen,“ sind vor allem Religion, 
Vaterlandsliebe (Nationalgefühl), die Idee der 
Menschenrechte, besonders der persönlichen 
Freiheit, der Gewissensfreiheit und des 
Widerstandes gegen Unterdrückung, ferner Fa¬ 
miliensinn, das Streben nach wirtschaft¬ 
licher und sozialer sowie politischer Besser¬ 
stellung u. dgl. Die ganze Geschichte ist von der die Dinge 
gestaltenden Macht dieser Ideen erfüllt und durchtränkt. 
J) Idee (griech.) ist eigentlich geistige Anschauung, Ver¬ 
nunftvorstellung, Gedanke. 
2) „Wer davon absieht, entbehrt in jedem Punkte der 
Motive des menschlichen Willens und seiner Wirkungen“ 
(Lorenz).
	        
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