fl
— 354 —
jungen Kräuter in die Brust eindringt und in den Kopf steigt;
und wenn die Schläfen pochen und die Wangen glühn, und
wenn er die Regentropfen aus den Haaren schüttelt, was ist
das für eine Lust!
Auf dem umgestürzten Stamm ruhte ich aus, und da ent¬
deckte ich unter den dichtbelaubten Ästen unzählige Vogelnester,
kleine Meisen mit schwarzen Köpfchen und weißen Kehlen, sieben
in einem Neste, und Finken und Distelfinken; die alten Vögel
flatterten über meinem Kopfe und wollten die jungen ätzen;
ach, wenn's ihnen nur gelingt, sie großzuziehen in so schwie¬
riger Lage; denk' nur: aus dem blauen Himmel herabgestürzt
auf die Erde, quer über einen reißenden Bach: wenn so ein
Vögelchen herausfällt, muß es gleich ersaufen, und noch dazu
hangen alle Nester schief. — Aber die hunderttausend Bienen
und Mücken, die mich umschwirrten, die all in der Linde
Nahrung suchten; — wenn Du doch das Leben mit angesehen
hättest! Da ist kein Markt so reich an Verkehr, und alles war
so bekannt, jedes suchte sein kleines Wirtshaus unter den Blüten,
wo es einkehrte, und emsig flog es wieder hinweg und begeg¬
nete dem Nachbar, und da summten sie aneinander vorbei, als
ob sie sich's sagten, wo gut Bier feil ist. — Was schwätze ich
Dir alles von der Linde! — und doch ist's noch nicht genug;
an der Wurzel hängt der Stamm noch zusammen; ich sah hin¬
auf zu dem Gipfel des stehenden Baumes, der nun sein halbes
Leben am Boden hinschleifen muß, und im Herbst stirbt er ihm
ab. Lieber Göthe, hätt' ich meine Hütte dort in der einsamen
Thalschlucht, und ich wär' gewöhnt, auf Dich zu warten, welch
groß' Ereignis wäre das, wie würd' ich Dir entgegenspringen
und von weitem schon zurufen: „Denk' nur an unsere Linde!"
Adieu! Jetzt geht's weiter! morgen bin ich Dir nicht so
nah, daß ein Brief, den ich früh geschrieben, Dir spät die Zeit
vertreibt. Ach, lasse sie Dir vertreiben, als wenn ich selbst bei
Dir wäre.
In Kassel bleibe ich vierzehn Tage, dort werd' ich der Mutter
schreiben; sie weiß noch nicht, daß ich bei Dir war.
Bettina.
154. Der Durchzug der Truppen.
Mein liebes Schwesterchen!
Du hast mich früher oft mit meiner Vorliebe für die
Soldaten geneckt, mein munteres Schwesterchen, und mich aus-