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Geschichte der Geographie.
auch dazu, daß vorher die Wissenszweige, die in Bezug auf jene als „Hilfswissen¬
schaften" gelten, vornehmlich die mathematisch-physikalischen Fächer dieselben Wege
exakter und spekulativer Forschung betraten, und gerade auf diesen Gebieten hat eine
Reihe hervorragender Geister der Erdkunde ihre Kräfte geliehen. Hierher gehört New¬
ton (4 1727), der Begründer der mathematischen Physik und der physischen Astronomie,
Leibniz <4 1716) der, wie auf alle Wissenszweige seiner Zeit, so auch aus die Methode
der physischen Erdkunde das Licht seines vielseitigen Geistes strahlen ließ, und Kant
«4 1804), der in Königsberg Vorlesungen über physische Geographie hielt. Zwei andere
Philosophen, Descartes und Leibuiz, hatten bereits früher eine neue Zeit eingeleitet,
dadurch daß sie den Plutonismus als die Grundkraft der Geologie vertraten, während
der Däne Stensen die ueptunische Erdbildungslehre verfocht. Neben dem Schotten
Hutton (4 1797) schuf A. G. Werner <4 1817) sein berühmtes neptunistisches System,
dem u. a. auch Goethe <4 t832) huldigte und das die Bildung der Erdrinde den Ab¬
lagerungen des Wassers zuschrieb, während Leopold v. Buch <4 1853) die Theorie der
Plutonisten vertrat, welche die Erdrinde als ein Erzeugnis der Erstarrung aus dem
glühenden Zustande erklärte. „Eigentlich hätte" — wie S. Günther^ sagt — „der plu-
tonisch-neptunische Gegensatz damit schon einen Ausgleich finden sollen) weder die eine
noch die andere Alternatrve mar die einzig berechtigte, sondern es konnte ein voll be¬
friedigender Friede unter der Formel geschlossen werden: Bei der Bildung der
Materialien, aus denen die Erdkruste sich aufbaut, ist sowohl das
Wasser als auch das Feuer beteiligt gewesen; Schichtung weist auf
Niederschlag aus dem Wasser, körnige Struktur auf Erstarrung aus
magmatischem Schmelzflüsse hin."
Das Jahrhundert der Philosophen ging damit über in das Zeitalter der exakten
Forschungen, das einmal räumlich die Erdoberfläche zu durchwandern, die „weißen Flecke"
aus der Karte zu tilgen strebte, dann aber die Entstehung des Planeten, der uns alle
trügt, und die Entwicklung seiner Rinde mit allen Naturreichen durch die sorgfältigsten
naturkundlichen Untersuchungen wissenschaftlich zu entwickeln suchte. Endlich drängte der
jähe Einbruch der Kultur W.-Europas in das Leben der Naturvölker, der ihre Überliefe¬
rungen und uralten Gepflogenheiten zu vernichten drohte, zu sammeln, was zu retten war,
um noch gerade in zwölfter Stunde ein ethnographisches und anthropologisches Lehrgebäude
aufführen zu können. Führer im Zeitalter der wissenschaftlichen Entdeckungen und Begründer
der missen)chaftlichen Erdkunde wurde A. v. Humboldt (4 1859i, der aus dem Zusammen¬
wirken aller Naturreiche auf die Erdoberfläche und dem Wechsel ihrer Beziehungen das
großartige Bild des „Kosmos" entwarf. Während ihn seine Vorliebe auf das Pflanzen¬
kleid der Erde lenkte, wurde Karl Ritter >1779—1859), der einer nicht minder umfaffen-
den Aufgabe sein Leben widmete, der Begründer der geschichtlichen Geographie, denn ihm
war die Erde „das Erziehungshaus des Menschengeschlechtes". „Er hat der Erdkunde
die hohe Aufgabe hinterlassen, in den Befähigungen, Leistungen und Schicksalen der
Bewohner das Spiegelbild der örtlichen Natur wiederzuerkennen. In seinen Augen
vertrat jedes individualisierte Ländergebiet eine sittliche Kraft und übernahm gleichsam
die Erziehung" — so urteilt über Ritter O. Peschel (4 1875), der, klarsinnig und
ungemein anregend, sich als dritter jenen beiden großen Geographen anreiht. Er hat
dem Begriffe der „vergleichenden Erdkunde" einen neuen Inhalt gegeben und seine Auf¬
gabe vor allem in der Morphologie, der Gestaltungslehre der unorganischen Erdober¬
fläche, gesucht. So zeigt sich in diesen drei Männern zugleich der Dualismus der
Erdkunde. Ihre eine Richtung behandelt die Erde als einen eigenartigen Naturkörper,
die andere als Wohnsitz des von ihr abhängigen, aber auch wiederum sie beeinflussenden
Menschen, so daß jene als physische, diese als historische Geographie bezeichnet
werden kann. Während zur Zeit die erstere in der wissenschaftlichen Behandlung weitaus
vorherrscht, so bewahrt doch vielleicht, wie H. Wagner- sagt, die ungleich größere Anzahl
wissenschaftlicher Geographen von heute uns mehr als früher vor der dauernden Ver¬
folgung einer einseitigen Richtung.
Der Geographie liegt als Aufgabe ob, das Zusammensein und die Wechselwirkung
der 6 Naturreiche auf der Erdoberfläche (im Gegensatze zur ganzen Erde): des Fest¬
landes, des Wassers, der Luft, der Pflanzen, der Tiere und der Menschen zu beobachten
1 A. sl. O. 2. Bd., S. 666.
2 Lehrbuch der Geographie. 6. Aufl., 1. Bd., S. 20.