94 Buch III. Allgemeiner Theil der politischen Geographie.
das Bedürfnis, jene höhere Macht zu versöhnen, und ihre Weise, diese
Versöhnung zu bewerkstelligen. Den ersten Menschen hat steh Gott selbst
offenbart: der Monotheismus ist die älteste Religion. Als aber das
Menschengeschlecht sich freiwillig von Gott abwandte, da wurde auch
hier „die Sünde der Leute Verderben", und das reine Gepräge jener
Urreligion wurde vermischt. Der Monotheismus zergieng in Polytheis¬
mus. Die Natur wurde, wie im Sinnlichen, so auch im Geistigen des
Menschen Herr, und der umdunkelte Sinn bildete sich Religionssormen,
in welchen die Natur der Heimat, und die durch Einwirkung der heimat¬
lichen Natur hervorgerufene oder näher bestimmte Volkstümlichkeit sich
aussprachen. Keine dieser Religionen konnte gestiftet werden, d. H. als
Product des Nachdenkens einzelner, höher organisierter Geister erscheinen;
die sogenannten Religionsstifter haben nur klarer ausgesprochen und
mit mehr oder weniger Glück in ein System zu bringen gewußt, was
im Geiste ihres Volkes schon lebte. Dafür gibt die nähere Betrachtung
der verschiedenen Religionen hinreichende Beweise. In den heißen
Gegenden der Erde, wo die Arbeit quält, wo Ruhe und sinnlicher
Genuß des Menschen höchstes Ziel ist, gilt auch der Zustand nach dem
Tode als ein Zustand seliger, selbstvergessener Ruhe, in welcher den Ab¬
geschiedenen sinnliche Genüsse ohne Schmerz beschert sind (Islam); in
den nordischen Ländern der Erde dagegen, deren Klima zur Arbeit zwingt,
ja erst durch energische körperliche Arbeit erträglich wird, da setzen auch
die Todten ihr rüstiges Jagd- und Heldenleben im Jenseits fort (Nord¬
amerikanische Indianer, Walhalla der Germanen). Wer erkennt nicht
in der Natur Irans mit ihren Gegensätzen zwischen warm und kalt,
dürrer Wüste und wohlbewässerten Paradiefesgärten, wilden Nomaden¬
horden und seßhafter, gebildeter Städtebevölkerung den Grund und
Boden, auf dem die dualistische, altpersische Religion sich entwickeln mußte?
Wer sieht nicht in dem Pantheon der Inder das Abbild der üppigen,
organischen Natur der Indischen Halbinsel? Wer erkennt nicht im
Styx das mythologische Abbild von Griechenlands unterirdischen Flüssen?
So ist also auch in dieser Beziehung der Mensch mit dem Sündenfall
der Natur verfallen und ihr Sklav geworden, und wenn durch alle
Gestaltungen heidnischer Religionsformen sich noch der Glauben an ein
höchstes Wesen, welches die Schicksale der Menschen lenkt (Großer Geist
der Nordamerikaner, fatum, EijictQ^m]), hindurchzieht, so wird das
höchste Wesen doch bei Seite geschoben durch jene Wuchergebilde einer
religiösen Phantasie, welche mächtiger war, als die Stimme der Ver¬
nunft. Aber Gott hat sich aufs Neue der Welt offenbart, zueist im
Judenthum, dann herrlicher und in voller Reinheit im Christen¬
thum. Und wenn wir auch in dieser geoffenbarten Religion Spaltungen
eintreten sehen, so mögen wir auch hier nicht verkennen, daß jene
Spaltungen größtenteils Abbilder der Volkstümlichkeit der Nationen
sind, bei denen sie zur Geltung gelangen, und je mehr die Völker jener
Trübungen der reinen Menschlichkeit, die wir Volfsthum, Nationalität
u. f. w. nennen, Herr werden, je mehr sie durch Wissenschaft und Aibeit
sich dem Einfluß der Erde und der heimatlichen Umgebung entziehen