Prutz: Der Vertrag von Verdun. 93
der Alpen schied, hier dem Ansturm der Normannen und Dänen, dort
dem der Araber preisgegeben, vereinigte dasselbe Italiener, Provencalen
und Burgunder, Rheinfranken und Friesen in sich, Völker und Bruch¬
teile von solchen, denen die wahre Lebensgemeinschaft fehlte; von dem
nördlichen Teil neigte die westliche Hälfte naturgemäß dem alten neu-
strischen, die östliche dem auftrasischen Lande zu. Das Unnatürliche
dieser Zusammenfügung wurde doch auch dadurch nicht gehindert, daß
man die Teilung nicht als eine
endgültige ansah, sondern nur
als eine provisorische Maßregel
bezeichnete, welche durch die Not
des Augenblicks geboten war, da
auf andere Weise der Bürgerkrieg
nicht beendet werden konnte. Der
Idee nach sollte das Reich auch
jetzt noch als ein einheitliches fort¬
bestehen; wenn auch einem jeden
von den drei Brüdern ein Teil
desselben zu besonderer Verwal¬
tung übergeben war, so hatte doch
jeder von ihnen ein gewisses An¬
recht auf das ganze Reich, befan¬
den sie sich gleichsam im gemein¬
schaftlichen Besitz desselben. Da¬
her standen sie auch, wenn schon
Lothar als Kaiser einen gewissen
Vorrang hatte, doch aus derselben
Stufe und sollten trotz der Tei¬
lung gemeinsam regieren, heißen
auch Könige der Franken, mag
auch der einzelne sich daneben
nach seinem besonderen Gebiete Ludwig der Deutsche,
nennen. Die Teilung zu Verdun
sollte also streng genommen wieder keine Teilung sein. Für die Unterthanen
der drei Könige im allgemeinen und an dem Verhältnis der einzelnen
Landschaften zu ihren Herren wurde durch sie nur wenig geändert. Ge¬
wisse Momente trugen noch dazu bei, diese Fiktion von der fortdauernden
Einheit des Reiches zu erhalten. Es gab Große genug, deren reiche
Güter in zwei, vielleicht in allen drei Teilreichen lagen, und die infolge¬
dessen von zwei oder gar von allen drei Königen abhängig waren. Ge¬
wiß hatten diese ein Interesse daran, die Vorstellung von der Fortdauer
der Reichseinheit zu nähren, weil dadurch der Thronwechsel in den Teil-