92 Das Alpengebirge.
Dicht unter dem Rande der Gletscher beginnen schon die grünenden Alpen-
wiesen mit ihren würzigen Kräutern. Die vorspringenden Abhänge sind init
Zarten Moosen und blühenden Alpenrosen bekränzt. Weiter abwärts grünen
prächtige Waldungen, Gruppen von Laubholz und ausgedehnte Forsten von
Tannen und Fichten. In den südlichen Thälern betreten wir die Gefilde, wo
Weinberge, Kastanien und Olivenhaine und die edleren Obstarten gedeihen.
In den hochgelegenen Thälern vereinigen sich diese verschiedenartigen Er-
scheinungen in dem lieblichsten Bilde. Licht uud Luft, Berg und Wald, das
frische Grün der Alpenwiesen unter den starren Gletscherfeldern, die reizenden
Alpenseen, in deren krystallenem Spiegel die Ufer, die Gipfel der Berge und
die Wolken des Himmels wiederschimmern, — dieses Alles übt auf das Ge-
müth eiueu zauberhaften Eindruck, der durch die eigentümliche Alpenmusik,
das Rauschen der Stnrzbäche und Wasserfälle, das Donnern der herabstürzen-
den Lawinen, das Läuten der Herdenglocken und das Jodeln der Senner und
Sennerinnen noch erhöht wird.
Der physischen und klimatischen Verschiedenheit der Länder zu beiden
Seiten des Alpenwalles entspricht die Verschiedenartigkeit der Völker, welche
sie bewohnen: hier Völker germanischen Stammes, ernst und bedächtig, fleißig
und treu, — drüben romanische Völker, leidenschaftlich und feurig, mehr dem
behaglichen Genüsse als dem fleißigen Erwerb zngethan. Die Alpen bilden
die Scheide zwischen den Völkern deutscher und wälscher Zuuge, zwischen ger-
manischen und romanischen Stämmen und Staaten. Aber anch diese Trennung
ist keine absolute. In den Alpenländern begegneten sich die Völker seit Alters
mit bewaffneter Hand, wie im friedlichen Verkehr. Hier trafen zuerst die
Scharen der Kimbern und Teutonen mit den Römern zusammen; von hier aus
drangen in den Zeiten der Völkerwanderung West- uud Ostgothen, Hunnen,
Heruler, Rugier und Langobarden in das ersehnte Land des Südens, um der
Weltherrschaft Roms den Todesstoß zu gebeu und neue Reiche auf deu
Trümmeru des römischen zu errichten; uud hier faudeu noch in neuer Zeit, in
den durch die Französische Revolution erregten Kriegen, die blutigen Kämpfe
statt zwischen den Heeren der Französischen Republik uud denjenigen Oesterreichs
und Rußlands, letztere zum Theil aus dem fernen Asien herbeigekommen.
Heber die Alpeu zogen aber auch schon während des Mittelalters die langen
Waarenzüge von den Stapelplätzen am Mittelmeere nach den blühenden
Handelsstädten des Reichs, und in der Gegenwart arbeiten die Völker von
beiden Seiten des Gebirgswalls daran, die gewaltige Schranke der Natur zu
durchbrechen uud über den Sattel der Gebirge hinweg, durch das Innere der
Berge hindurch, dem friedlichen Verkehr neue Wege zu bahnen. In den Alpen
treffeil sich jährlich Gelehrte vou allen Nationen, um die Wissenschaft durch
neue Entdeckungen und durch die Ergebnisse ihrer Forschungen zu bereichern.
So sind die Alpen zwar Trennungsmarke, aber zugleich auch dasjenige
Gebiet, auf welchem die Interessen der Völker sich begegnen und verschmel¬
zen, und üben deshalb — vorzugsweise auf die ihnen zunächst anwohnenden
Völker — in kulturgeschichtlicher, politischer und materieller Beziehung einen
bedeutsamen Einfluß aus.
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